«The Winter Guest» von Alan Rickman

Eine alte Frau stapft über ein schneebedecktes Feld. Ebenso hastig wie energisch strebt sie einem Ziel entgegen, das vorderhand nur sie kennt. Doch soviel Vorwärtsdrang sie auch ausstrahlt, gleichzeitig wirkt sie gebrechlich, fürchtet man stets, sie könnte einen Fehltritt tun und hinfallen. Im Dorf angekommen, geschieht es tatsächlich: sie strauchelt, würde böse stürzen, gelänge es ihr nicht im letzten Augenblick nach einem Geländer zu greifen, den Sturz aufzufangen und sich mühsam wieder aufzurichten.

Mit diesen Bildern beginnt <The Winter Guest> – mit einer Szene, die den gesamten Film programmatisch umreisst. Immer wieder führt der Weg die Menschen hinaus in die Weite, auf das eisbedeckte Meer, über kahle Felder, in den dichten Nebel. Und immer wieder stolpern sie, suchen Halt an einem Gegenstand oder an ihrem Nächsten.

Schliesslich schafft es Elspeth (Phyllida Law) doch noch bis an ihr Ziel, dem Haus ihrer Tochter Frances (Emma Thompson). Diese hat ihren Mann vor kurzem nach schwerer Krankheit verloren. Ein Schicksal, das sie nicht verkraftet und krampfhaft zu verdrängen versucht. Im ganzen Haus hängen, stehen und liegen Fotografien des toten Geliebten. Bilder, die sie, die Berufsfotografin, selbst aufgenommen hat. Seit seinem Tod jedoch arbeitet sie kaum mehr, und wenn, dann porträtiert sie Schulhäuser – keine Gesichter. Unter dieser Situation leidet ebenso ihr ungefähr achtzehnjähriger Sohn Alex (Gary Hollywood), der mit dem Vater faktisch auch die Mutter verloren hat.

Nur wenige Stunden sind wir zu Gast in diesem eiskalten schottischen Küstendorf, und doch geht es um’s ganze Leben. Im Zentrum des Films stehen Elspeth und Frances, umrahmt von drei Paaren, deren Geschichten zwar nur lose mit der ihrigen verknüpft sind, die letzlich dennoch alle nur der Ausfaltung eines einzigen Themas dienen.

Da sind einmal Chloe und Lily, zwei alte Damen, die mit Vorliebe die Todesanzeigen studieren, um dann <freiberuflich> den Beerdigungen in der Umgebung nachzugehen.

Die beiden Jugendlichen Alex und Nita versuchen sich im Spiel von <Annäherung und Rückzug>. Zunächst stellt Nita Alex nach, versucht ihn aus der Reserve zu locken. Als er sich scheinbar verärgert abwendet, haben sich in Wahrheit lediglich die Rollen vertauscht, jetzt verfolgt Alex Nita und schiesslich kommt es zwischen den beiden zu einer zaghaften Annäherung.

Am Strand vertrödeln die beiden Schüler Sam und Tom den Tag, unterhalten sich über die Nöte der Adoleszenz und lassen dafür die Schule sausen.

Im Mittelpunkt aber befinden sich Elspeth und Frances. Ihr Verhältnis zueinander ist offensichtlich angespannt und von Vergangenem belastet. Dennoch versuchen sie, unbeholfen bis schroff, einander näherzukommen, sich gegenseitig Stütze zu sein. Das ist offensichtlich nicht einfach, die Kommunikation funktioniert, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft und meist indirekt.

Es sind vier Beziehungsgeschichten die <The Winter Guest> vor uns ausbreitet, alle vor dem Hintergrund eines kalten Tages, so kalt, dass sogar das Meer zugefroren ist. Und bald wird klar, dass diese Szenerie in erster Linie Metapher sein soll. Sinnbild für eingefrorene Beziehungen, für das darunter verborgene Bedürfnis nach Zärtlichkeit und für die Tragfähigkeit von Freundschaften. Dementsprechend verfremdet und stilisiert wirkt der Raum in dem sich die Figuren bewegen – wunderbar eingefangen und gestaltet von Kamera und Design.

Die erste Regiearbeit des Schauspielers Alan Rickman <Die Hard> (USA ???), <Sense and Sensibility> (USA 1995) kann und will ihre Herkunft nicht verleugnen. Es handelt sich um die Adaption eines erfolgreichen Theaterstücks, dessen Bühnenfassung ebenfalls Rickman inszeniert hat. Dennoch ist daraus nicht abgefilmtes Theater geworden. Rickman ist ganz offensichtlich ein begabter Regisseur und nicht ein weiterer <unterforderter> Star auf der Suche nach der künstlerischen Herausforderung.

Rickman gelingt es, seine Geschichte nicht nur über Dialoge sondern auch über adäquate Bilder, subtile Gesten und ein bemerkenswertes Gespür für Rhythmus zu erzählen.

Wenn das Fernrohr in Frances Haus beispielsweise dazu benutzt wird, Menschen auf der Strasse zu beobachten, dann drückt das einerseits die Unfähigkeit der Protagonisten aus, miteinander in direkte Beziehung zu kommen. Andererseits ist damit auch die Grundsituation des Zuschauers eingefangen.

Thematisch und stellenweise auch formal knüpft Rickman interessanterweise an seinen wohl schönsten Film – als Schauspieler – an. Auch <Truly, Madly, Deeply> (GB 1990) von Anthony Minghella wendet sich auf ganz und gar unprätentiöse Weise den letzten Dingen des Lebens zu.

<The Winter Guest> ist ein Film der Gesten und steckt voller Symbole. Selbst wenn einiges davon überdeutlich ins Bild gerückt wird, gelingt es Rickman insgesamt auf beeindruckende Art und Weise, seine metaphorische Absicht in überzeugende Bilder und Szenen zu verpacken.

Es ist im Grunde eine einzige <Zärtlichkeitsgeschichte> , die hier, aufgefächert auf vier Generationen, erzählt wird. <Zärtlichkeitsgeschichte> deshalb, weil es zwar auch um Sexualität, nicht aber um Sex geht. (Was ein Grund dafür sein mag, dass in diesem Film keine Männerrolle Platz hat.)

Das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, es wird in unzähligen Details offenkundig: Zwei alte Frauen teilen sich ein Dessert, streiten um den Fensterplatz im Bus und schliesslich bietet die eine der anderen ihren Arm an, als Stütze in der Angst vor dem Tod.

Zwei Schuljungen klagen über ihre endlos erscheinende Pubertät, über das Desinteresse ihrer Eltern und finden schliesslich bei ausgesetzten Kätzchen Leidensgenossen und Objekte der Zärtlichkeit.

Zwei Jugendliche machen zaghafte Schritte aufeinander zu, wünschen sich in Gedanken nur <das Eine> und werden je näher sie sich kommen doch immer feinfühliger, scheuer – zärtlicher.

Und schliesslich Tochter und Mutter, die beide darum ringen, den anderen an sich heranzulassen, die Nähe des anderen zu ertragen.

Dennoch, so sehr die Menschen in <The Winter Guest> mit ihrem inneren Winter beschäftigt sind, Rickman bewahrt seine Figuren wohltuenderweise vor angestrengter Psychologisierung und Tiefengrübelei. Er versagt ihnen auch die grossen Druchbrüche, wodurch gerade die kleinen an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Wenn Frances einen der Schuljungen fotografiert und sich damit wieder lebendigen Gesichtern zuwendet, dann ist das ein solcher kleiner Durchbruch, einer, der glücklicherweise nicht überinszeniert wird. Und wenn der fotografierte Junge darum bittet, Frances durch’s Haar fahren zu dürfen, dann entsteht daraus eine kurze aber nichtsdestotrotz grosse Szene. Was sich nämlich in diesem Moment im Gesicht von Frances abspielt, das ist schlicht unbeschreiblich – ein Fall von Kinomagie.

 

Solche Momente gelingen jedoch nur dank einem durchwegs hervorragendem Ensemble. Emma Thompson sticht daraus als bekanntester Name hervor und wird diesem wie selten zuvor gerecht. Bereits in Filmen wie <Peter’s Friends> (GB 1992) wurde ihr Mut zur Hässlichkeit hervorgehoben, ein Mut, der sie vom Gros der Schauspielerinnen abhebt. In <The Winter Guest> kommt noch der Mut zum Alter hinzu. Erstmals spielt sie eine sogenannt reife Frau, eine Rolle für die sie eher zu jung als zu alt ist – auch das ist für Schauspielerinnen ihrer Generation aussergewöhnlich.

Dennoch ist <The Winter Guest> immer ein Ensemble-Film und in keiner Phase ein Emma-Thompson-Vehikel. Hervorzuheben ist allenfalls Phyllida Law, im wirklichen Leben wie im Film Emma Thompsons Mutter. Von ihr mag man sich noch viele Altersrollen gönnen.

Eine Frage, die sich der Zuschauer – und der Kritiker ganz besonders – den ganzen Film hindurch stellt, blieb bis zum Schluss offen: Wer eigentlich ist dieser winterliche Gast, von dem im Filmtitel die Rede ist?

Alan Rickman sieht im <Winter Guest> ganz einfach jenen Horizont, auf den jeder Mensch zugeht.

Der unausweichlichste gemeinsame Horizont, auf den wir alle zugehen, ist der Tod. Und tatsächlich, der Tod und seine Bewältigung ist in nahezu jeder Szene gegenwärtig. Ein Glück, das aus dem ernsten Thema kein traniger Film geworden ist. Im Gegenteil, mit dem Wintergast ist ebenso sehr das Leben gemeint. Beides, Leben und Tod erscheint untrennbar miteinander verknüpft.

Dieses Thema hat Rickman zwar weder als erster noch endgültig behandelt, aber die konsequente, feinfühlige und im besten Sinne unterhaltsame Art und Weise, wie er es tut, die ist im Kino dann doch eher selten zu sehen. Dass er dafür in Venedig den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen hat, ist sicher gerechtfertigt.

Zum Schluss gehen die beiden Schuljungen mit ihren Kätzchen auf’s Eis in den aufkommenden Nebel hinaus – rational betrachtet also in den Tod. Gerade in dieser Schlusszene wird jedoch ein Transzendenz spürbar, die den gesamten Film – mal deutlicher mal subtiler – durchzieht: Wenn auch jeder von uns objektiv gesehen dem Tod entgegengeht, er geht damit auch ins Leben.

Leben und Lieben, so kann man <The Winter Guest> deuten, heisst, einer Eisschicht vertrauen, von der man nicht weiss, wie tragfähig sie ist.

ZOOM 1/1998

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