«Insomnia» von Christopher Nolan

„Ein guter Cop kann nicht schlafen, weil ein Puzzle-Teil fehlt – ein schlechter kann nicht schlafen, weil er Schuldgefühle hat.“ Knapp und präzise beleuchtet Will Dormer (Al Pacino) damit sein eigenes Dilemma, denn er ist aus beiden Gründen vom Schlaf des Gerechten ausgeschlossen.

Normalerweise lösen Dormer und sein Partner Hap Eckhart (Martin Donovan) ihre Fälle für das Polizeidepartement von Los Angeles. Aber weil dort eine polizeiinterne Untersuchung gegen sie läuft, kommt der Ruf eines alten Freundes gerade recht und so fliegen sie nach Nightmute in Alaska, um in diesem Flecken nördlich des Polarkreises, wo im Sommer die Sonne niemals untergeht, den Mord an einer jungen Frau aufzuklären.

Der Täter ist für Dormer schnell gefunden: Alles deutet auf den Schriftsteller Walter Finch (Robin Williams) hin. Einer schnellen Rückkehr nach Los Angeles scheint nichts im Wege zu stehen, wäre da nicht die Untersuchung und die für Dormer bedrohliche Ankündigung Eckharts, mit den Behörden einen Deal einzugehen und auszupacken. Als Finch im dichten Nebel aus der Falle entkommt, die Dormer und seine Kollegen ihm gestellt haben und Eckhart von einer Kugel tödlich getroffen wird, beginnt für Dormer der Alptraum erst, denn er selbst hat den fatalen Schuss abgefeuert. Davon weiss allerdings nur Finch, der sogleich den Spiess umkehrt und Dormer ein Katz-und-Maus-Spiel aufzwingt, bei dem dieser immer stärker in die Defensive gedrängt und die Rollen vertauscht werden: Finch scheint jeden Schritt und die Gedanken Dormers vorauszusehen, während sich dieser wie ein Verbrecher benimmt, der in Panik seine Spuren vertuscht. Die Umkehrung der Vorzeichen ist eines – wenn auch das konventionellere – der Hauptmotive von „Insomnia“. Immerhin ist Nolan mit dem harten Burschen Al Pacino und dem Gutmenschen vom Dienst Robin Williams ein überraschender und im Resultat überzeugender Besetzungscoup gelungen. Die eigentliche Pointe liefert aber der Vorspann, der als raffiniertes Vexierspiel bereits enthüllt, was wir erst im Verlaufe des Films zu ahnen beginnen.

„Schlaflosigkeit macht einsam.“ sagt Finch und trifft damit ins Schwarze: Die Schlaflosigkeit raubt Dormer buchstäblich die Sinne, er wird zum Gefangenen in einem Käfig aus gleissendem Licht. Selbst seine junge Assistentin Ellie Burr (Hilary Swank), die ihn über alles bewundert und in ihrer Abschlussarbeit seine legendären Fälle analysiert hat, findet kaum mehr einen Zugang zu Dormer, obwohl sie es dem heroischen Vorbild so recht wie möglich machen will. Gerade das ist es aber, was Dormer von einer guten Polizistin nicht will. In einer kurzen Szene präsentiert er kurz den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit: Als ihm Ellie den Bericht zum Tod Eckharts zur Unterschrift und damit zur Absegnung vorlegt, unterzeichnet Dormer nicht, obwohl er damit all seine Probleme los wäre. Stattdessen rät er Ellie: „Wenn du ein guter Cop sein willst, unterzeichne nie etwas, das Du nicht bis ins Letzte überprüft hast.“ Obwohl Dormer weiss, dass sich dieser Rat gegen ihn selbst richten und als Folge seine eigene Schuldhaftigkeit ans Licht gezerrt wird, kann er gar nicht anders, weil er um jeden Preis ein guter Cop sein will.

„Insomnia“ ist das Remake eines Films von Erik Skjoldbjaerg („Insomnia“, Norwegen 1997). Von dessen Vorlage ist allerdings bei Christopher Nolan im Grunde nur noch das Gerippe stehen geblieben. Vor allem die Interpretationen der Hauptfigur durch Stellan Skarsgård einerseits und durch Al Pacino andererseits laufen geradezu diametral auseinander. Während Skarsgård ein eiskalter Machtmensch ist, der für seine Karriere alles tut und damit durchkommt, erscheint Pacino als leidenschaftlicher Wahrheitssucher, ein eigentlicher Gerechtigkeitsfanatiker, der dafür bereit ist, jede Grenze zu überschreiten. Während sich die norwegische Fassung in eisiger Gefühlskälte jeglicher Psychologisierung konsequent entzieht und radikal zynisch bis zum Schluss bleibt, wird Pacino ein Gewissen zugestanden und er damit auf die Fallhöhe eines tragischen Helden gehoben.

Dies und die betörende Landschaftsfotografie kann man als kommerzielle Notbremse, als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack interpretieren. Mit einem solchen Ausspielen der beiden Fassungen gegeneinander wird man aber weder der einen noch der anderen wirklich gerecht. Vor allem verpasst man die Chance, faszinierter Zeuge eines Spiels zu werden, in dem mit demselben Material zwei völlig verschiedene Spielverläufe zustande kommen.

Christopher Nolans Variante ist davon geprägt, dass sie ein zusätzliches Motiv ins Spiel zu bringen und dieses überzeugend mit dem Grundgerüst zu verzahnen versucht: Dormer kommt nicht aus dem kalifornischen Nichts sondern mit einer Geschichte beladen, die er auch durch seine Flucht ins archaische Alaska nicht abschütteln kann.

Auf faszinierende Weise umgeht Nolan eine Grundregel des Thrillers und löst sie gleichzeitig ein: Das ungeschriebene Gesetz lautet, dass die unheimlichsten Szenen nachts spielen, weil sich das Schreckliche im Dunkeln verbirgt. Was also tun, wenn wie in „Insomnia“ immer die Sonne scheint? – Die Szenerie wird in dichten Nebel getaucht, in blendendes Licht, in undurchdringliches Weiss!

Die Redensart von Enthüllungen, die ein neues Licht auf einen Fall werfen, wird damit ins Paradoxe übersteigert. Das Licht wird im eigentlichen Wortsinn penetrant, lässt keine Verdrängung mehr zu, so dass der Gerechtigkeitsfanatiker Dormer lichtblind wird, erst recht nichts mehr durchschaut und sich in der physischen und psychischen Orientierungslosigkeit verliert.

In der konsequenten Ausarbeitung dieses Motivs kommt Nolan seinem Erstling „Memento“ (UAS 2000) so nahe, dass spürbar wird, wie sehr er sich auch diesen fremden Stoff zu eigen gemacht hat. In „Memento“ besteht die Paradoxie darin, dass ein Mann sich selbst immer fremder wird, je mehr er von seiner Vergangenheit enthüllt. Er kann sich an nichts erinnern – aber sich an alles zu erinnern, bringt genau so wenig Erlösung. In „Insomnia“ stürzt Dormer in einen ebenso qualvollen Prozess der Selbstentfremdung. Weil er nicht mehr schlafen kann, kann er nicht mehr träumen und weil er nicht mehr träumen kann, fehlt ihm ein wesentlicher Schlüssel zu seinem Unterbewusstsein und damit zu seinem Selbstverständnis. Nichts mehr verdrängen zu können, führt nicht zur vollkommenen Selbsteinsicht sondern zur totalen Desorientierung. In beiden Fällen gilt: Je mehr wir enthüllen, desto unverständlicher werden wir uns selbst.

In einer Welt ohne schwarze Flecken gibt es keinen Halt, denn das totale Licht verbirgt die Wahrheit genauso wie das totale Dunkel.

Thomas Binotto

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