Der deutsche Autor Hans Conrad Zander hat das beliebte Schlagwort «Jesus ja – Kirche nein» abgeändert in: «Kirche ja –– Jesus nein!» –– Würde ich Jesus nur durch Jesusfilme kennen, müsste ich ihm aus tiefstem Herzen beipflichten.
«Du sollst keine Jesusfilme machen», so lautet deshalb von nun an das 11. Gebot –– und ich bin sein Prophet. Weil aber heutzutage göttliche Autorität allein nicht mehr ausreicht, sehe ich mich gezwungen, dieses Gebot nicht nur zu verkünden, sondern auch zu begründen. Ich werde die Gelegenheit benutzen, um im gleichen Atemzug –– in guter theologischer Tradition –– auf ein paar Hintertürchen hinzuweisen, die uns dieses Gebot offen lässt.
Subgebot Nr. 1:
Du sollst keine Jesusfilme machen, weil das absolut Gute absolut langweilig ist
Grund für die gepflegte Langeweile, welche die meisten Jesusfilme verbreiten, ist zunächst einmal ein dramaturgisches Dilemma: Jesus ist –– wenigstens für einen glaubwürdigen Filmhelden –– schlicht zu gut.
Im klassischen Jesusfilm ist der Kampf mit dem Bösen längst ausgefochten. Und weil auch das Ende allseits bekannt ist, sind selbst in dieser Beziehung enge Grenzen gesetzt. Die Versuchung Jesu durch den Teufel, sie verkümmert geradezu zum Scheingefecht.
Mit Jesus tut sich die Filmkunst ähnlich schwer wie mit dem Paradies –– das absolut Gute und die absolute Glückseligkeit lassen sich nicht darstellen, und wenn man es dennoch versucht, dann wird es unweigerlich kitschig, banal und lächerlich. Das hat im übrigen bereits Dante erkannt und zugegeben, dass die Darstellung der Hölle ihm viel leichter gefallen sei, als die des Himmels.
Subgebot Nr. 2:
Du sollst keine Jesusfilme machen, weil Matthäus nicht Charles Dickens ist und da Vinci unfehlbar
Die Evangelien bieten zwar einen starken Plot, aber die Story ist voller Löcher, Details erfährt man kaum, und die psychologische Motivation bleibt erst recht im Dunkeln. Mit Charles Dickens als Redaktor wäre das alles ganz anders gekommen. Er beschreibt Handlungen, Figuren und Motivationen derart detailversessen, dass man eigentlich nur noch hingehen und nach dieser Vorlage filmen muss.
Apropos Löcher in der Story: Man könnte meinen, dass gerade damit mehr Freiheiten für unterschiedliche Interpretation blieben. Weit gefehlt! Was die Bibel angeht, so sind die Erwartungen noch rigoroser als bei Literaturverfilmungen. Polemisch ausgedrückt: Im Laufe der Jahrhunderte haben es die Christen geschafft, aus einem Minimum an Quellen ein Maximum an Gewissheit herauszuholen. Für Spekulationen bleibt da kein Platz mehr.
Am ehesten genügt man deshalb dem unfehlbaren Geschmack des Publikums, wenn man sich eng an die christliche Ikonographie hält. So wie da Vinci das Abendmahl gemalt hat, so muss es gewesen sein, und deshalb rüttelt daran auch Hollywood nicht.
Subgebot Nr. 3:
Du sollst keine Jesusfilme machen, weil du gezwungen sein könntest, Jesus zu zeigen
Damals, als ich den Religionsunterricht besucht habe, bestand kaum eine Möglichkeit, dem Jesusfilm von Franco Zeffirelli zu entrinnen. Aber dieser wasserstoff–blauäugige, sanft–fanatische, aseptisch–asketische Jesus war mir schlicht zuwider und meine Antipathie wuchs von Wunder zu Wunder.
Und doch habe ich diesem Kinoschock eine tiefe Einsicht zu verdanken: Jesus wird im Film wie in keinem anderen Medium zu einer lebendigen Figur, zu einem Menschen, der mir sympathisch ist oder eben auch nicht. Dadurch wird spürbar, was es bedeutet, wenn plötzlich ein Verwandter, ein Nachbar, ein Freund aufsteht und behauptet, er sei der Messias. Und so ist es ganz sicher ein Glück, dass es zu Jesu Zeiten noch keine Videokameras gab; man stelle sich vor: «Das Leben Jesu» als Dogmafilm seines Jüngers Johannes.
Weshalb mühen sich dennoch immer wieder Filmemacher mit Jesus ab, wo das Resultat doch eh nur misslungene und langweilige Filme sein können? Wegen der Hintertürchen, die uns das 11. Gebot offen lässt!
Hintertür Nr. 1:
Jesusfilme werden spannend, wenn man sich am Evangelium vergreift
Als Martin Scorsese «The Last Temptation of Christ» drehte, stand für ihn die Frage «Was wäre, wenn…» im Zentrum. Was wäre, wenn Jesus nur Mensch gewesen wäre, wenn er der Versuchung nachgegeben, wenn Ostern nicht stattgefunden hätte? Scorsese wagte einen Blick auf den «unfertigen», den vor–österlichen Jesus zu werfen –– und erntete dafür heftigste Schimpftiraden empörter Christen, die in ihrer Glaubenserstarrtheit nicht begriffen, dass sie Zeuge eines höchst ernsthaften Glaubensexperimentes wurden.
In «The Life of Brian» stiess den frommen Kritikern die Bergpredigtszene besonders sauer auf, ausgerechnet eine der tiefsinnigsten Szenen des Films. Gerade die Christen von heute befinden sich nämlich in der gleichen Lage wie die Zuhörer auf den billigen Plätzen, die nur noch akkustische Fetzen aufschnappen und sich beim Versuch, diese zu ergänzen in die Haare geraten. Wir ringen heute genauso um das Verständnis dessen, was Jesus wohl gemeint hat.
Hintertür Nr. 2:
Jesusfilme werden spannend, wenn man den «anderen» Jesus zeigt
«Jésus de Montréal» wurde im Gegensatz zum fast gleichzeitig entstandenen Scorsese–Film mit einhelliger Begeisterung gefeiert. Einer der Hauptgründe liegt sicher darin, dass Arcand seine Jesusinterpretation nicht an Jesus selbst, sondern an einem «anderen» Jesus festgemacht hat, einem Schauspieler, der Jesus in einem Passionsspiel darstellt und immer tiefer in seine Rolle einsteigt. Jesus selbst wurde nicht in Frage gestellt, und damit war sein Film selbst für Fundamentalisten geniessbar.
Was den Skandalfilmen bei ihrem Frontalangriff auf’s Haupttor nur selten gelingt, transportieren diese Filme durch die Hintertür und unterwandern damit unsere Voreingenommenheit mit List –– beispielsweise in der subtilsten Umkehrung aller Jesusgeschichten –– im «Nazarin» von Luis Buñuel, wo ein idealistischer Priester mit der Jesusnachfolge radikal ernst macht und tragisch scheitert.
Hintertür Nr. 3:
Jesusfilme werden spannend, wenn Jesus nicht auftritt
Ausgerechnet in «Ben Hur» ist eines der eindrücklichsten Jesusporträts gelungen. Mehrmals kreuzen sich die Wege von Ben Hur und Jesus, aber nie kriegt man das Gesicht des Messias zu sehen –– ein Jesusporträt, aufgezeichnet in seiner Wirkung.
Man mag einwenden, dass Filme, in denen Jesus selbst nicht auftritt, eigentlich keine Jesusfilme mehr seien. Wenn man jedoch die Präsenz Jesu nicht auf seine bildhafte Anwesenheit reduziert, dann gehören gerade sie zu den eindrücklichsten der Gattung.
Gerade in diesen «indirekten» Jesusfilmen zeigt sich, dass man einem Thema oft näher kommt, wenn man es nicht 1:1 abzubilden versucht. Je realistischer und bibeltreuer ein Jesusfilm dagegen zu sein versucht, desto heftiger muss er scheitern.
Dank der Hintertürchen gibt es sie also doch, die spannenden und sehenswerten Jesusfilme. Allerdings, wer ein treuer Anhänger da Vincis ist, der wird damit rechnen müssen, hin und wieder in seinem Glauben an seine wahren Bilder erschüttert zu werden. Aber wenn Filme aufregend und intelligent gegen das 11. Gebot verstossen, dann habe selbst ich, als sein Prophet, meine Freude daran.
Thomas Binotto – erschienen in «FILM» 4/2000