Die Dogmen des Alfred Hitchcock

“Meine grösste Chance war, dass ich für diese Ausdrucksform gewissermassen das Monopol hatte. Niemand sonst interessierte es, die Regeln des Supense zu studieren.” – Mit dieser raffinierten Mischung aus Understatement und Egozentrik hat Alfred Hitchcock immer wieder eigenhändig und nachhaltig den Mythos des “Masters of Suspense” mitaufgebaut.

Selbstverständlich hat Hitchcock die Regeln des Suspense nicht erfunden, und das hat er in einigen wenigen schwachen Augenblicken sogar selbst zugegeben. Ebenso sicher war er auch nicht der Einzige, der es verstand, nervzerreissende Filme zu inszenieren. Dennoch wird noch heute jedem halbwegs gelungenen Thriller das Etikett “hitchcockmässig” angehängt.

Die einfachste Methode, Hitchcock zu imitieren, scheint auf den ersten Blick das Remake zu sein. Dennoch sind die meisten Neuverfilmungen von Hitchcock-Filmen kläglich gescheitert, jüngst “A Perfect Murder” (USA 1998) und “Psycho” (USA 1998). Beide Filme kamen pikanterweise bei weitem nicht an den Erfolg der Wiederaufführung des Klassikers “Vertigo” (USA 1958) heran. Das einzige wirklich gelungene Remake hat Hitchcock mit “The Man Who Knew Too Much” (USA 1956) selbst realisiert. Wie die Neuverfilmung gegenüber dem Original abschneidet, kann man hoffentlich bald aus eigener Anschauung beurteilen: 44 Jahre nach der letzten Kinovorführung hat Hitchcocks Tochter Patricia die englische Version von 1934 endlich wieder freigegeben.

Aber einmal abgesehen von simplen Remakes, welchen Einfluss übt Hitchcock heute noch auf das Kinoschaffen aus? Wir wollen Hitch, dem guten Katholiken, die Ehre erweisen und stellen hier seine zehn Gebote zusammen, die er so – oder ähnlich – im legendären Marathon-Interview mit François Truffaut aufgestellt hat. Jedes Gebot wird illustriert durch ein besonders gelungenes Beispiel aus der jüngsten Kinovergangenheit.

1. Je nichtiger der Anlass für die Spannung, desto besser. Wähle also deinen “MacGuffin” mit Bedacht.

In “The Spanish Prisoner” (USA 1997) von David Mamet, wird Jagd auf die bahnbrechende Erfindung eines jungen Wissenschafters gemacht. Die Erfindung selbst erhält man allerdings nie zu Gesicht und das einzige Detail, das über sie verraten wird, ist, dass sie eben “bahnbrechend” sei – was als Katalysator, als “MacGuffin” für einen Thriller vollkommen genügt.

2. Zeige die gewalttätigsten Szenen möglichst zu Beginn, dann reichen später schon Andeutungen, um für Hochspannung zu sorgen.

Eine junge, stumme Frau wird versehentlich in einem Moskauer Filmstudio eingeschlossen. Deshalb wird sie Zeugin eines grausamen Mordes, der für ein Snuff-Movie vor laufender Kamera begangen wird. Nachdem Anthony Waller in “Mute Witness” (D/GB/Russland 1995) diese Schockbilder in den Köpfen der Zuschauer deponiert hat, bleibt die Jagd auf die ungebetene Zeugin auch ohne weitere drastische Szenen schweisstreibend.

3. Ziehe die Zuschauer so in Bann, dass sie am liebsten auf die Leinwand springen möchten, um drohendes Unheil abzuwenden.

Wir Zuschauer wissen, dass unter dem Bus in “Speed” (USA 1994) eine Bombe hochgeht, sobald dieser eine gewisse Geschwindigkeit unterschreitet. Wir wissen damit mehr als die Filmfiguren – aber weniger als der Regisseur. Dadurch wird eine Spannung erzeugt, die uns mitten in die Filmhandlung hineinversetzt und uns zu Möchtegern-Filmhelden macht.

4. Lass dem Zuschauer keine Zeit, den Film zu analysieren. Halte ihn so in Atem, dass er die Löcher in der Geschichte nicht bemerkt.

Ein biederer, unbescholtener Vater wird zusammen mit seiner Tochter gekidnappt und gezwungen, innerhalb von achtzig Minuten eine Politikerin zu ermorden, andernfalls werde seine Tochter getötet. “Nick of Time” (USA 1995) ist ein Echtzeitthriller, dessen Geschichte wie ein Räderwerk abläuft und der keine Sekunde mit Erklärungen verliert. Ein purer “Suspense-Thriller”, der bei uns leider nur auf Video herausgekommen ist.

5. Das ganz Gewöhnliche ist oft furchteinflössender als das Aussergewöhnliche.

Was wäre, wenn sich ein freundlicher, durch und durch harmlos wirkender Nachbar als Terrorist entpuppte. In “Arlington Road” (USA 1998) wird genau mit dieser Vorstellung gespielt. Die Harmlosigkeit und Sicherheit des ganz gewöhnlichen Alltags wird damit in Frage gestellt und die heimliche Paranoia in uns allen geweckt.

6. Je gelungener der Schurke, desto gelungener der Film.

John Woos generiert in “Face/Off” (USA 1997) durch den Rollentausch der beiden Hauptfiguren gleich zwei überwältigende Schurken, die sich gleichzeitig auch noch in der Heldenrolle abwechseln – dank Nicolas Cage und John Travolta eine kaum mehr zu überbietender Höhepunkt in der Geschichte der gelungenen Schurken.

7. Noch wirkungsvoller wird ein Thriller, wenn er mit Understatement und Humor dargeboten wird.

In den letzten Jahren hat keiner so hinreissend illustriert, was “Understatement” bedeutet, wie Steven Soderbergh in seiner Gaunerballade “Out of Sight” (USA 1998). Nur ganz folgerichtig erinnert George Cloney dann auch frappant an Cary Grant, der wie kein anderer Hitchcock-Darsteller die perfekte Verkörperung dieser Regel darstellte.

8. Wen interessiert schon die Wirklichkeit? Ein guter Action-Thriller arbeitet mit Klischees.

“Was gibt es in der Schweiz? Milchschokolade, die Alpen, Volkstänze und Seen. Mit diesen Elementen habe ich den Film (“The Secret Agent” (GB 1936) gefüttert.” Was Hitchock schon vor über sechzig Jahre betrieben hat, darauf ist die gesamte James Bond-Reihe aufgebaut. Sie ist nichts weiter als eine perfekte “Klischeverwertungsmaschinerie” vor der keine Ikone des internationalen Tourismus verschont bleibt – ganz zum Vergnügen der Zuschauer. Und das wird auch beim nächsten Bond-Abenteuer, welches gegen Jahresende erwartet wird, nicht anders sein.

9. Wer es als Regisseur zum Superstar bringen will, der übe sich in der Selbstvermarktung und schreibe sich in seine Drehbücher Kurzauftritte.

Keiner ist Hitchcock hierin treuer gefolgt als Lars von Trier. In fast jedem seiner Filme taucht er kurz auf, jüngst in “Idioterne” (Dänemark 1998) als Interviewer hinter der Kamera. Wie von Trier zudem im biederen Konfirmandenlook den Provokateur gibt, der stets offen lässt, was er nun ernst meint und was nicht, das erinnert exakt an das Marketinggenie Hitchcock. Bedankt hat sich von Trier bei seinem Lehrmeister übrigens auch: mit einer Hommage an “Vertigo” in “Europa” (Dänemark/S/D/F 1990).

10. Run for cover – Wenn die Karriere zu knicken droht, versuch es mit altbewährten Rezepten.

Brian de Palma schien Mitte der Neunzigerjahre nach zahlreichen Flops endgültig abgeschrieben, kein Studio wollte ihm mehr einen Film anvertrauen. Nur weil Produzent und Hauptdarsteller Tom Cruise darauf bestand, erhielt de Palma schliesslich doch noch eine Chance. Das Resultat war “Mission: Impossible” (USA 1996) – ein sensationeller Kinoerfolg. Er wurde es unter anderem deshalb, weil de Palma sich auf das zurückbesann, was er immer schon am besten konnte: die Regeln des Suspense – die Dogmen des Alfred Hitchcock – perfekt zu befolgen.

Zehn Regeln und zehn Filme – das ist alles andere als repräsentativ, weder für die Regiekunst Alfred Hitchcocks noch für das Kinoschaffen heute. Dennoch wird deutlich, wie gross der Einfluss Hitchcocks nach wie vor ist. Über fünfzig Jahre lang hat er mit Thrillern experimentiert und dem Genre seine Regeln abgerungen – an seinen Einsichten kommt niemand vorbei. In dieser kleinen Auswahl von aktuellen Filmen zeigt sich jedoch auch, dass Hitchcock vielleicht Höhe- aber sicher nicht Endpunkt des Genres war. Zwar sind Wiederaufführungen seiner Meisterwerke wie “The Birds” (USA 1963) nach wie vor einmalige Kinoereignisse, aber die Regeln des Suspense, sie werden auch heute noch gepflegt und phantasievoll weiterentwickelt – ganz im Sinne des “Masters of Suspense”, der bis an sein Lebensende überzeugt war, den perfekten Thriller noch nicht gedreht zu haben.

Erstmals publiziert in «film» 1999

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