Nacht: Meeresbrandung – eine verlassene Kleinstadtstrasse – ein ebenso verlassener Polizeiposten – auf einem abgewetzten Plakat «Love thy neighbour as thyself» – Streicherklang, pulsierender, drängender Rhythmus – eine Hausfassade im Dunkel – Ehepaar schlafend – ihr tickender Wecker – «Dannys Room» in Kinderschrift – leeres Kinderzimmer – irgendwo draussen ein Kind – sein Blut tropft vom Finger – im Close-Up tickt die Uhr – die Augen des Kindes schliessen sich – es steht am Rand einer Klippe – Top-Shot – Broadchurch.
Und dann sieben Minuten lang fröhliches «Good Morning»: Der Klempner, der Lokaljournalist, der Pfarrer, die Chefredaktorin, der Arbeitskollege, die Hotelbesitzerin, die Polizistin. Nur Danny fehlt in dieser Kleinstadtidylle. Und vor dem Strand staut sich der Verkehr.
Broadchurch ist klein, und deshalb muss DS Ellie Miller (Olivia Colman) den Mord am besten Freund ihres Sohnes aufklären. Sie, die sonst als Freundin und Vertraute in die Häuser kommt, wühlt sich nun als Ermittlerin durch die Lebensgeschichte ihrer Mitbürger. Und damit unweigerlich auch durch ihre eigene. Sie durchleuchtet ihr Milieu von innen statt von aussen. Sehr unprofessionell eigentlich – aber ungemein spannend natürlich.
Diesen Kniff haben die grossen alten Damen des englischen Krimis bereits vor Jahrzehnten angewendet. Allerdings nie so radikal wie Chris Chibnall. Während Miss Marples St. Mary Mead trotz all der kommunalen Mordlust eine putzige Idylle bleibt, gelingt dem Autor von Broadchurch ein fein verästeltes und tief verwurzeltes Gesellschaftsporträt von unheimlicher Authentizität. Als ob sich Agatha Christie mit Mike Leigh zusammengetan hätte.
Chibnall macht die Banalität des Alltäglichen zum Trumpf des Autors: Broadchurch ist überall. Dessen zwischenmenschliche Verstrickungen kennen wir alle. Und damit daraus Drama wird, sucht Broadchurch die perfekte Mischung von authentischer Allgemeingültigkeit und aufregendem Thrill.
Vielleicht können tatsächlich nur Briten diese perfekte Symbiose: Exzentrik und Stil. Klassische Krimiplots, die dennoch aufregend innovativ sind. Ja, zu Beginn steht ein Mord. So weit so klassisch. Und auch die Entwicklung eines Psychodramas, von dem selbst die Ermittler nicht ausgeschlossen sind, kennen wir seit Dorothy Sayers und P. D. James. Man kann es Kleinstadt-Aufstellung nennen, was hier vor uns in den acht Folgen der ersten Staffel langsam enthüllt wird.
In der itv-Produktion wird das sprichwörtliche englische Qualitätsfernsehen allerdings um den entscheidenden Tick übertroffen. Ensemble, Bildregie, Schnitt, Musik – alles aus einem Guss. Und dabei nicht nur niveauvolles Handwerk, sondern grandiose Meisterschaft. So intensiv und dicht, dass manche Zuschauer schon nach dem Vorspann in Schockstarre geraten. Und sich dann selbstverständlich sechs Stunden lang weigern, davon erlöst zu werden.
Für die Exzentrik steht DI Alec Hardy (David Tennant), der neu in Broadchurch ist, ein herzkranker Griesgram, dem der Ruf nachhängt, er habe es an seiner letzten Stelle so richtig verbockt. David Tennant interpretiert diesen Charakter, der zwischen arrogantem Arschloch und sensiblem Moralisten festhängt, grandios.
Übertroffen nur noch von Olivia Colman, die als Ellie Miller für Alltäglichkeit steht. Deshalb ist ihr Part auch bedeutend anspruchsvoller, weil ihm so gar keine Exzentrik zugestanden wird, nicht einmal im Lebenslauf: Mutter zweier Kinder, Frau eines aufgeschlossenen Hausmannes, verdiente Polizistin. Null Glamour, die Haare alltagstauglich schnellfrisiert, die Tasche quer über die Brust, praktisch halt, wie das Schuhwerk. Und wenn Ellie aus dem Urlaub zurückkehrt, kriegt jeder einzelne Kollege auf dem Revier sein kleines Mitbringsel.
Dieser Ausbund an Bodenständigkeit kann natürlich nicht die neue Chefin werden. Dafür holt man Alec Hardy, das schottische Arschloch.
Dann beginnt die zweite Staffel. Und nun wagt Broadchurch den grossen Sprung. Der eben noch überführte Täter widerruft vor Gericht sein Geständnis und plädiert auf «Nichtschuldig». Nun wird uns vorgeführt, was wir in einer TV-Serie noch nie gesehen haben: Eine zweite Staffel als Revision der ersten.
Wo wir uns eben noch sicher gefühlt haben, gerät alles wieder ins Wanken. Erneut wird in Broadchurch alles Private durchwühlt, noch tiefer, noch verstörender, noch schmerzlicher, bis von dem, was einmal Gemeinwesen hiess, kaum mehr etwas übrig bleibt.
Auch die schlauen Ermittler werden revidiert und geraten vollends zur Antithese eines Hercule Poirots. Wenn der belgische Meisterdetekiv vor versammelter Gemeinde seine Lösung zelebriert, provoziert er damit ein ebenso blitzsauberes Geständnis und der Vorhang fällt. Miller und Hardy dagegen rennen während der Gerichtsverhandlung ständig ihren eigenen Verfahrensfehlern und Schlampigkeiten hinterher. Sollte es zu einem Freispruch kommen, sie müssten sich ewig Vorwürfe machen. Und gleichzeitig versuchen sie Hardys verbockten Fall aus seiner Vor-Broadchurch-Zeit zu lösen. Wer braucht schon neue Verbrechen, wenn ihn die alten nicht loslassen.
Drei Jahre später scheint der Tod Dannys nur noch eine Wunde. Diese ist allerdings, wie die dritte Staffel zeigt, längst nicht verheilt. Seine Eltern Beth und Mark Latimer gehen getrennte Wege. Beth versucht den ihrigen in die Zukunft zu gehen – Mark kann nicht von der Vergangenheit lassen.
Auch Miller und Hardy sind von der Vergangenheit gezeichnet. Aber in der Gegenwart erreicht sie der Hilferuf von Trish Wintermann, die das Opfer einer Vergewaltigung wurde. Was nun folgt, ist Erzählkunst, für die nur das Fernsehformat Raum bietet: Fünfzehn Minuten lang folgen wir der verstummten Trish. Von der vorsichtigen Kontaktaufnahme durch die Polizei in die Notaufnahme für Opfer sexueller Gewalt. Polizei wie Ärzte versuchen Trish ganz, ganz vorsichtig die Kontrolle zurückzugeben. Nichts wird ohne ihre Zustimmung geschehen. Und dennoch muss sie eine erneute Demütigung durchleiden, weil ihr eigener Körper zum Tatort wird, den Forensiker absuchen. Einmal mehr gewinnt Broadchurch mit ruhigen, äusserlich unspektakulären Bildern eine Intensität, die dokumentarisch und dramatisch zugleich ist. In der man als Zuschauer an sich selbst voyeuristische wie empathische Impulse entdeckt.
Das Ende der dritten Staffel ist gleichzeitig der Abschied von Broadchurch. Und dieser ist so rührend und tiefsinnig inszeniert wie kaum ein anderes Serienfinale. Insbesondere in amerikanischen Serien naht das Ende, wenn die Zuschauer sich abwenden. Wenn also die Quote sinkt, weil man von seiner «Serienfamilie» genug hat und sie schnöde im Stich lässt.
In Broadchurch dagegen sind es die Bewohner von Broadchurch selbst, die uns vor die Tür setzen. Die Latimers haben vor unseren Augen ihren Sohn verloren, sie haben für uns ihr Familienleben entblättert, sind für uns durch die Hölle gegangen, haben sich für uns gestritten und getrennt. Nun ist es genug!
Wenn die zarte Hoffnung, die für sie aufscheint, eine Chance auf Entwicklung haben soll, dann müssen wir unseren Blick abwenden. Und so nehmen sich die Latimers ihr Leben wieder zurück und sagen uns mit allen anderen Bewohnern von Broadchurch freundlich aber dezidiert: «Goodbye!»
Wir wären gerne länger geblieben. Aber die Authentizität hat ihren Preis. Sie erlaubt es fiktiven Figuren, ihre Autonomie einzufordern.
Thomas Binotto
Broadchurch
England 2013-2017, 24 Episoden in 3 StaffelnRegie: Euros Lyn, James Strong; Buch: Christ Chibnall, Louise Fox; Kamera: Matt Gray; Musik: Ólafur Arnalds, Darsteller (Rolle): Ellie Miller (Olivia Colman), Alec Hardy (David Tennant), Beth Latimer (Jodie Whittaker), Mark Latimer (Andrew Buchan), Tom Miller (Adam Wilson), Chloe Latimer (Charlotte Beaumont), Olly Stevens (Jonathan Bailey), Rev. Paul Coates (Arthur Darvill), Joe Miller (Matthew Gravelle), Maggie Radcliffe (Carolyn Pickles), Susan Wright (Pauline Quirke), Nige Carter (Joe Sims), Liz Roper (Susan Brown), Jocelyn Knight (Charlotte Rampling), Sharon Bishop (Marianne Jean-Baptiste), Ricky Gillespie (Shaun Dooley), Claire Ripley (Eve Myles), Lee Ashworth (James D’Arcy) … Produktion: Kudos Television and Film, Shine America, Imaginary Friends für itv
Die Staffeln 1-3 sind auf DVD, BluRay und auf diversen VoD-Plattformen erhältlich. Staffel 3 bislang nur in der englischen Originalversion.
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