«Silence» von Martin Scorsese

1638 geht unter Jesuiten im chinesischen Macau das Gerücht um, Pater Cristóvão Ferreira sei im Zuge der Christenverfolgung in Japan gefoltert worden und danach vom Glauben abgefallen.

Die beiden jungen Patres Sebastião Rodrigues und Francisco Garupe sind jedoch felsenfest von der Glaubensstärke ihres Mentors überzeugt und halten die Nachricht für böswillige Propaganda der japanischen Machthaber. Sie lassen sich deshalb heimlich an Japans Küste absetzen, um Ferreira zu finden und die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Diese Ausgangslage erinnert an «Apocalypse Now». Und weil Martin Scorsese Regie führt, könnte man nun eine virtuose Reise ins Herz der Finsternis erwarten. Aber wer nun auf «The Mission 2» hofft oder ein weiteres gewalthaltiges Scorsese-Sittengemälde, der sitzt buchstäblich im falschen Film.

«Silence» ist der asketischste und introvertierteste Film, den Scorsese je gedreht hat. So streng in seiner Zurückhaltung, dass Scorsese sogar auf jene zwei Gestaltungsmittel verzichtet, die sein Genie ausmachen: Es gibt praktisch keine Musik und eine Montage, die so unauffällig wie nur irgend möglich bleibt.

Dennoch verrät «Silence» unglaublich viel über Scorsese und liest sich wie eine späte Antwort auf all die Angriffe, die er nach «The Last Temptation of Christ» erdulden musste. «Silence» ist eine zweieinhalbstündige filmische Meditation, in der Scorsese offenbart, wie zutiefst christusgläubig bereits «The Last Temptation of Christ» in seinem Grunde war. Und dort entdecken wir das, was Martin Scorsese aus Little Italy sei jeher umtreibt. Ihn, der einst mit dem Gedanken spielte, Priester zu werden.

Scorseses Urgrund für sein Werk lässt sich mit den Begriffen Entsagung – Verleugnung – Verrat umreissen. In diesem Dreieck bewegen sich seine Filme, ob es nun um den Boxer Jake LaMotta, den Anwalt Newland Archer oder den Mafiosi Henry Hill geht. Sie alle träumen einen Traum, für den sie sich selbst verleugnen, andere verraten und schliesslich dem Traum selbst entsagen. – Auch die Suche nach Ferreira gerät zum Debakel. Schon bald ist Sebastião Rodrigues auf sich allein gestellt. Gottverlassen! So wird er nach und nach in die extremste Entsagung überhaupt geführt: den Verrat an Jesus Christus.

Dann jedoch ereignet sich jenes Paradox, das Meister Eckhart in so vielfältiger Weise immer und immer wieder beschrieben hat: Erst wenn Ferreira in die extremste Gottferne fällt, ohne Glaube, Hoffnung und Liebe ist, erst dann spricht Christus wieder zu ihm. Wenn sich Ferreira im Verrat selbst entwertet, wird er eins mit dem Gekreuzigten. Und es ist jener Gekreuzigte aus «The Last Temptation of Christ», der sich so extrem selbst verleugnet hat, dass er vor den Augen der Zuschauer zum Skandal wurde.

Scorsese mutet uns mit «Silence» eine anspruchsvolle und auch anstrengende Seelenbeichte zu. Er versagt uns das Gerüst einer packenden Handlung, mitreissender Emotion und offensichtlicher Interpretationshilfen. In «Silence» werden Film und religiöse Erfahrung eins. Wir treten ein in Scorseses Kathedrale, ein Raum der Transzendenz, in dem der Kinoprojektor uns auf eine Reise ins Herz des Lichts mitnimmt.

Thomas Binotto

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