Superhelden II

An der Spitze ist man allein

Einsamkeit im Kino? – Das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst aus dem einsamsten Einpersonenstück wird zumindest Zweisamkeit, weil ohne Zuschauer kein Kino entsteht.
Eine banale Feststellung, die aber von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis von Kino ist, denn das Kino ist wie die Kirche ein Ort der Gemeinschaft.
Aber wie sich Einsamkeit anfühlt, welche Spielarten von Einsamkeit es gibt, wie der Mensch Einsamkeit aushalten oder gar gestalten kann, das alles versucht selbstverständlich auch das Kino zu vermitteln. Und sei es mit einem Superhelden wie Peter Parker alias Spider-Man.

Wer an Superhelden denkt, der denkt an Superman oder Batman, als Nostalgiker an Tarzan oder Flash Gordon, als Bildungsbürger an Herkules oder Siegfried. Aber ganz gleichgültig welchen Superhelden wir vor Augen haben, nur selten wird uns dabei bewusst, dass für ihn Einsamkeit mindestens so typisch ist wie Superkraft.
Superhelden sind die extrem Einzigartigen, sind die zugleich ersten wie die letzten ihrer Art. Sie werden damit zwangsläufig von Einsamkeit begleitet und manchmal auch dazu verdammt. Wer kann Spider-Man schon folgen, wenn er senkrecht eine Mauer hochsteigt?
Ihre körperliche Abnormität macht sie allerdings noch lange nicht zu Helden. Peter Parker lernt nicht, die Wände hochzugehen und sich durch Häuserschluchten zu schwingen, weil er damit noch erfolgreicher für Recht und Ordnung sorgen will. Bei ihm verhält es sich genau umgekehrt: Ein zufällig eingefangener Spinnenbiss lässt ihn zum Spinnenmann mutieren und erst damit beginnt die Suche nach seiner Bestimmung. Und selbst dann ist es noch ein weiter Weg, bis die Bestimmung Spider-Mans auch zur Bestimmung Peter Parkers wird.
Superhelden schwanken häufig zwischen Ärger über den Betriebsunfall, der sie zu dem gemacht hat, was sie sind; Hader mit dem Fluch ihrer Gabe; Eskapismus in pure Kraftmeierei hinein und schliesslich Fügung in eine mehr und mehr als schicksalshaft empfundene Sendung.
«Aus grosser Kraft folgt grosse Verantwortung» ist das Leitmotiv für Peter Parkers Reifeprozess zum Superhelden. Es ist das Credo, das ihn davon abhält, ein Schurke zu werden.

Superhelden sind so selbstverständlich soziale Einsiedler, dass Elternlosigkeit praktisch ausnahmslos zu ihrer Biografie gehört: Ob Tarzan, Superman, Batman, Spider-Man, Harry Potter oder James Bond – alle haben sie ihre Eltern früh verloren. Einsamkeit begleitet sie also von Kindsbeinen an, aber sie wirken dadurch nicht etwa abgehärtet, sondern erst recht verletzlich, denn ihre grosse Sehnsucht ist jene nach Nähe, nach Zärtlichkeit, nach Beziehung.
Die Akademie der X-Men, die der Mutant Charles Frances Xavier für seine jugendlichen Artgenossen aufbaut, ist deshalb auch eine Utopie. Aber selbst hier bleibt die Einsamkeit der Superhelden permanent spürbar. Eine wie Rogue ist buchstäblich unantastbar, denn ihre «Gabe» besteht darin, jedem Menschen und auch jedem Mutanten der sie berührt, die Lebenskraft zu entziehen. Aucht Superhelden unter sich tun sich also schwer mit Nähe – aber zumindest sind sie nicht mehr allein in ihrem Leiden an der Auserwählung.

Obwohl die grosse Sehnsucht eines jeden Superhelden menschliche Nähe ist, bleibt er einsam, weil er eine Aufgabe übernommen hat, die einsam macht. Enge Freundschaften, Liebesbeziehungen oder gar Familie, all das würde ihn für seine Feinde nur noch angreifbarer machen.
Nirgends wird deshalb so ungeniert zölibatär – wenn auch nicht immer keusch – gelebt, wie im Superhelden-Milieu. Eine Superhelden-Parodie wie «Die Unglaublichen» ist deshalb umwerfend komisch, weil sie ausmalt, was aus Superhelden wird, wenn man sie an Kind und Kegel, an Heim und Herd fesselt.
Sobald Superhelden aber in der harten «Wirklichkeit» Beziehungen eingehen, sind diese ihre empfindlichste Schwachstelle. James Bond ist einer der wenigen, der ins bürgerliche Leben auszubrechen versucht und heiratet. Er muss dafür allerdings bitter büssen, denn seine Frau wird bereits auf der Hochzeitsreise kaltblütig erschossen. Bonds Promiskuität haftet damit mehr Tragik als Zynismus an. Man kann sie auch als verzweifelte Auflehnung des Superhelden gegen den Zwang zur Einsamkeit verstehen.

Der Superheld schützt mit seinem sorgsam gehüteten Inkognito allerdings nicht nur seine Umgebung, sondern auch den gewöhnlichen Menschen in sich selbst, der den eigentlichen Kern seines Wesens ausmacht.
Peter Parker ist als Spider-Man ein Superheld – ohne seine Maskerade dagegen schüchtern, ungeschickt und unscheinbar. Dennoch möchte er von Mary Jane nicht als Spider-Man geliebt werden, denn Peter empfindet sein Spinnendasein als Belastung, als Fluch, als eine Deformation.
Peter führt sein Doppelleben nicht nur zum Schutz des Superhelden sondern genauso zum Schutz des Möchtegern-Normalbürgers in sich selbst. Wenn er sich Mary Jane endlich offenbart, dann fällt paradoxerweise die Maske «Peter Parker» und dahinter wird die einsame Seele Spider-Man sichtbar.
Superhelden strotzen nur ganz selten vor Selbstvertrauen. Sie empfinden sich selbst als Freak und in ihrer zivilen Identität, die in Tat und Wahrheit ja eine Tarnung ist, erscheinen sie als Tollpatsch. Dieser allerdings gibt von seinem Wesen mehr preis, als man zunächst ahnt, denn mit ihm liegt inmitten all dieser übermenschlichen Kräfte eine einsame Seele verletzlich offen da.

In ihrer Einsamkeit und Zerrissenheit sind Superhelden ideale Projektionsfläche für Heranwachsende. Sie können so vieles – aber die Umwelt traut ihnen nichts Gutes zu oder missversteht sie. Deshalb fühlen sie sich abgelehnt und isoliert.
Wie Spider-Man empfinden viele junge Männer das Erwachsenwerden körperlich als eigentliche Mutation. Ihr Körper verändert sich, verhält sich unerwartet, wird als fremd oder sogar abstossend wahrgenommen. Erst allmählich gelingt es ihnen, die Kontrolle zurück zu gewinnen und sich mit ihrem neuen Körper zu versöhnen. Peter Parkers Uneinigkeit mit sich selbst geht bisweilen so weit, dass er seine Superkräfte einbüsst.
Auch die X-Men lernen auf ihrer Akademie nichts anderes, als den eigenen Körper und seine neuen Fähigkeiten zu beherrschen, bis sie ihn als Teil ihrer Identität akzeptieren können.
Diese oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit neu heranwachsenden Kräften und deren Gewaltpotential stellt gerade junge Männer vor grosse Herausforderungen. Ein Drama, das sich in Spider-Man besonders einprägsam spiegelt: Als Superheld überwindet er mit spielerischer Eleganz die Grossstadt-Schluchten – aber als Peter Parker ist er nicht fähig, Mary Jane mit einfachen Worten seine Liebe zu gestehen.
Diese Unfähigkeit, Gefühle zu verbalisieren, führt im Extremfall dazu, dass sich der Stau in irrationalen Gewaltausbrüchen entlädt. Das mag sich auf der Leinwand in einem prächtigen Inferno äussern, aber den meisten Superhelden (und Halbstarken) geht es wie Peter Parker: Sie leiden stumm an ihrer Sprachlosigkeit.

In dieser Einsamkeit, die über weite Strecken nicht gesucht sondern erlitten ist, beginnen dann allerdings Werte zu strahlen, die man im alltäglichen Beziehungsgeflecht oft vergisst oder unterschätzt. Superhelden wissen mit geradezu schmerzlicher Schärfe, was es bedeutet, sich einem Menschen zu offenbaren. Sie sind sich bewusst, welches Wagnis rückhaltloses Vertrauen bedeutet. Sie hüten sich, Begriffe wie Freundschaft, Zärtlichkeit und Treue leichtsinnig zu verwenden. Gerade weil Peter Parker und all seinen Superheldenkollegen der Weg in eine bürgerliche Kernfamilie verbaut ist, gerade deshalb machen sie sichtbar, was Beziehungen für Menschen bedeuten und welche Sehnsüchte damit verbunden sind.
In ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Wahrheit stehen Superhelden stellvertretend für eine jugendliche Aufbruchstimmung, für den naiven aber auch unverbrauchten Glauben daran, dass dieser Planet ein besserer Planet sein könnte. Dafür gehen Superhelden bis an die Grenzen und darüber hinaus. «Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter», wie es Buzz Lightyear in «Toy Story» bei jeder Gelegenheit in die Runde schmettert. Spätestens dort werden wir aber zwangsläufig auch Einsamkeit ertragen und gestalten müssen.

Thomas Binotto – erschienen in «einfach leben» 25. September 2012

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