«Der Tatortreiniger»: Dort, wo der Krimi aufhört

Bjarne Mädel sieht Heiko Schotte im «Tatortreiniger» als Nebenrolle. Das ist nicht bloss Koketterie eines Schauspielers, der für diese Rolle bereits zweimal mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Tatsächlich ist Heiko «Schotty» Schottes wirkungsvollste Intervention ein lang gezogenes, zutiefst unverständiges «Wäää?». Damit reagiert er jeweils mit Verzögerung auf Einwürfe des Gegenübers, die er so gar nicht nachvollziehen kann. Bjarne Mädel ist im «Tatortreiniger» der Reakteur. Und sein «Wäää?» ist ein Laut gewordenes Doubletake, durch das Aktion und Reaktion in einen Austauschprozess stolpern.

Schotty, ein einfach gestrickter Putzmann, taucht an Tatorten erst auf, wenn die Polizei ihre Arbeit längst erledigt hat. Er sähe sich gerne als deren Kollege, nennt sich wenig Eindruck schindend Spube. – – – «Wäää?» – «SpurenBeseitigung!» – Und Schotty hat als Klingelton selbstverständlich die Tatort-Titelmelodie eingerichtet. Wer vom «Tatortreiniger» jedoch Kriminalistisches erwartet, wird gründlich getäuscht. Schottys Arbeitsbeschrieb klingt zwar spektakulär: «Meine Arbeit fängt da an, wo sich andere vor Entsetzen übergeben.» Aber selbst der versprochene Ekel stellt sich nicht ein.

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Der «Tatortreiniger» ist in mehrfacher Hinsicht eine Fernsehserie, die aus dem Rahmen fällt. Es werden seit 2011 jährlich lediglich drei bis sechs Episoden à 30 Minuten gedreht. Über sechs Jahre verteilt ergibt das insgesamt gerade mal 27 Episoden. Der horizontale Erzählstrang, der über mehrere Folgen und Staffeln hinweg entwickelt wird, fehlt völlig. Und Schotty ist der Einzige, der in sämtlichen Folgen auftaucht. Sogar Zweifachauftritte von anderen Figuren sind eine absolute Rarität.

Selbst Schottys Biografie müssen wir uns in Bruchstücken zusammenklauben: Der Vater ist abgehauen als er zwölf war. Die Mutter würde ihren Sohn noch im Grab zurechtweisen. Verliebt ist Schotty meist sehr einseitig. Und wenn er ausnahmsweise doch auf Gegenliebe stösst, verliert er die Frau seiner Träume bestimmt subito an einen anderen Mann. Sogar unter seinen nicht minder erfolglosen Kumpeln vom FC Dieter ist Schotty der Aussenseiter. Wenn jemand mehr von Schotty über Schotte erfahren will, reagiert er barsch: «Ich hab’ mein eigenes verkacktes Leben!» Und das behält er für sich.

Schotty ist tatsächlich eine Nebenfigur. Und das muss er auch sein, denn er wird als Katalysator benötigt. Von ihm braucht es lediglich ein «Wäää?» und schon nimmt der Dialog Fahrt auf. Der «Tatortreiniger» entwickelt sich in einer Lücke. Zwischen Aussage und Nichtverstehen. Wo sich Menschen zufällig begegnen, die sich nichts bedeuten und deshalb zunächst auch nichts zu sagen haben. Zwischen zwei Kriminalfällen, wenn die Handlung zwischenzeitlich zum Stillstand kommt. In dieser Leere entwickelt sich anstelle des Whodunit ein Whylivit. Schotty ist das Lösungsmittel beim Saubermachen im Leben, denn «Dreck ist Materie am falschen Platz».

Tatortreiniger_Anbieterwechsel

Obwohl die Hauptfiguren immer nur eine Episode lang ihren Psychostrip hinlegen, entsteht Serialität gerade deshalb, weil der «Tatortreiniger» mit einem Minimum an Story auskommt. Die Variation einer Nicht-Story wird zum Grundprinzip erhoben. Es entspricht diesem radikalen Konzept des «Tatortreinigers», dass die einzelnen Episoden dramaturgisch nicht verknüpft werden.

Dass der «Tatortreiniger» ausgerechnet dort anfängt, wo der Krimi aufhört, ist zudem eine listige Demaskierung des beliebtesten Serien-Genres überhaupt, denn im Krimi sind Verbrechen und Aufklärung genauso reiner Vorwand. Jeder scheinbar neue Fall ist bloss die Variation von tausend bereits gelösten Fällen.

Dennoch kommt auch dieses Konzept nicht ohne Klammer aus. Zusammengehalten wird die Serie allerdings nicht durch den Plot, sondern durch Haupt-Nebendarsteller, Autorin und Regie.

Bjarne Mädel verleiht Schotty seit sechs Jahren eine konsistente Persönlichkeit und entfaltet dabei diesen Charakter sehr subtil immer weiter – ein horizontales Psychogramm gewissermassen. Und er wird als Reakteur zum Resonanzraum für eine eindrückliche Riege von Hauptdarstellern, die unter anderem deshalb so wunderbar spielen, weil sie wunderbar besetzt wurden.

Mizzi Meyer schreibt jene Dialoge, die den «Tatortreiniger» weit über durchschnittliche Serienkost hinaus heben. Es sind 27 raffinierte Kammerspiele, die sich die ehemalige Hausautorin und Regisseurin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg bislang ausgedacht hat. Ingrid Lausund heisst sie mit wirklichem Namen, und man muss sich bei ihren absurd-fiesen Labyrinth-Dialogen einfach an Karl Valentin erinnern.

Das geht schon in der ersten Folge los, in der sich Schotty mit einem Callgirl einen Prosecco gönnt und dabei in eine etymologische Erleuchtung gerät. Denn: Kommt nicht Prostituierte von Prost? – Über solche Albernheiten und Kalauer geraten wir eins ums andere in die Fänge von Mizzi Meyer, bis wir lustvoll im tieferen Irrsinn zappeln und daraus am Ende tatsächlich erleuchtet wieder auftauchen. Oder zumindest erhellt. Und vielleicht auch bloss heiter.
Arne Friedrichs schliesslich jongliert als Regisseur vergnügt mit Stilformen, wobei die Spielerei nur selten so sehr in den Vordergrund gerät wie im kafkaesken Bürokratiewahnsinn von «Carpe Diem». Meist verpackt er seinen Raffinesse in souveränem Understatement, weshalb sich das mehrmalige Schauen einzelner Episoden als ein besonderes Vergnügen entpuppt.

In einem sind sich Friedrich, Meyer und Mädel absolut einig: Über allem und in allem steckt Lakonie. Für sie geht diese jedoch weit über Wortkargheit hinaus. Sie wird zur Lebenshaltung, zum sorgsam gepflegten lakonischen Stoizismus. Das empfinden wir, neben den Schauplätzen, wohl auch als das typisch Hamburgische am «Tatortreiniger».

Diese Lakonie zwingt alle zu höchster Präzision – sei es nun beim Schreiben der Dialoge, beim Spiel der Darsteller, wie bei der Inszenierung. Der «Tatortreiniger» brilliert deshalb durch meisterhaftes Timing, durch Pausen und Auslassungen im rechten Augenblick. Das klingt asketisch. Und das ist es auch. Nicht zuletzt, weil man mit einem schmalen Budget auskommen muss. Aber genau daraus entfaltet sich jener anarchische Spielwitz, der aus dem «Tatortreiniger» eine Kultserie macht.

Exemplarisch zeigt sich all das in «Wattolümpiade», einer auf den ersten Blick unscheinbaren, in ihrer Tiefe aber hinreissende Episode. Gemeinsam inszenieren Meyer, Friedrich und Mädel einen zunächst enervierenden Stillstand. Aber dann katalysiert Schotty, der eigentlich nur für einen verhinderten Kollegen eingesprungen ist, Frau Wüllbein doch noch. Ihr ganzes Leben hat diese Frau im Warteraum verbracht – selbst beim Sterben standen ihr immer andere vor der Sonne. Aber nun fasst das alte, einsame, dienstbeflissene Mütterchen doch noch den Entschluss zur Entdeckung des eigenen Egos. Das allerdings versetzt Schotty in Panik, den Frau Wüllbein droht nun für ihn zum Katalysator zu werden und ihn so ebenfalls ins Leben hineinzuziehen. Das allerdings darf nicht sein. Denn das wäre das Ende vom «Tatortreiniger».

Schotty mag eine Veganerin dazu bringen, sich mit ihrem ernährungsuntreuen Freund zu versöhnen. Er kann eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruch von der Heilkraft der Lüge überzeugen. Aber wenn der Roboter E.M.M.A. die Rollen vertauscht und Schotty zu katalysieren beginnt, dann flieht er in Panik. Und verpasst damit die grosse Chance zu einer glücklichen Beziehung mit der Empfangsdame. Das ist sein Opfer zu unserem Fernsehglück.

Thomas Binotto – publiziert in «filmbulletin» 2/2017

«Der Tatortreiniger»
Deutschland, seit 2011
Bislang 27 Episoden
Buch: Mizzie Meyer
Regie: Arne Feldhusen
Musik: Carsten Meyer
Kamera: Kristian Leschner, Eric Ferranti
Produktion: Studio Hamburg, Wolfgang Henningsen
Darsteller: Bjarne Mädel als Heiko «Schotty» Schotte.
Gäste (Auswahl): Katharina Marie Schubert, Bernd Moss, Christine Schorn, Bettina Stucky, Michael Wittenborn, Jean-Pierre Cornu, Alwara Höfels, Holger Stockhaus, Florian Lukas, Milan Peschel, Karin Hanczewski, Fritzi Haberlandt, André Jung, Barbara Nüsse, Matthias Brandt, Jan-Peter Kampwirth, Michael Maertens, Vivian de Muynck, Jörg Pose, Peer Martiny, Annika Meier, Björn Meyer, Anna Schudt, Simon Schwarz, Verena Mundhenke, Antonia Bill, Harald Burmeister, Sebastian Weber, Olli Schulz, Jan Georg Schütte, Werner Wölbern…

Die Staffeln 1-5 (Folgen 1-24) sind auf DVD, BluRay sowie auf diversen VoD-Plattformen erhältlich.

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