John Sayles (*1950)

Lone Sayles

Während Sam Deed am Fluss steht und in Gedanken seiner Kindheit nachhängt, gleitet sein Blick langsam zum Flussufer, wo zwei Kinder miteinander spielen – eines davon ist er selbst. Organischer und unaufgeregter als in »Lone Star» (1996) kann man Rückblenden kaum inszenieren: Sie ergeben sich aus der Geschichte, sind eingebettet in den Erzählfluss und verwirren nie. Und doch wird gerade dadurch die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart offensichtlich, wird sinnfällig, dass Identität nur hat, wer seine Geschichte kennt, dass diese Geschichte aber auch Identitäten blockieren und zerstören kann. – Wir befinden uns in der Welt des Erzählens, in der Welt von John Sayles.

Es ist eine Welt, in der scheinbar willkürlich und losgelöst nebeneinander stehende Geschichten sich allmählich zu der einen grossen Geschichte verdichten, so wie auch John Sayles selbst eine Geschichte ist, die man von verschiedenen Enden her erzählen muss, um ein Bild seiner Persönlichkeit zu erhalten.

Der Hauptdarsteller

John Sayles wurde am 28. September 1950 in Schenectady, New York, als Kinder zweier Lehrer geboren. Der Vater war irisch- stämmiger Atheist, die Mutter deutsch-stämmige Katholikin, John Sayles selbst sollte sich später als katholischen Atheisten bezeichnen. Er gesteht allerdings auch, dass sein Weg zum Erzähler begann, als er in der katholischen Messe immer und immer wieder die Geschichte Jesu anhören musste. »Es war, als würde man sich einen Film auf Kassette anschauen: man spielt ihn vor und zurück, Szene um Szene, wieder und wieder. Damals begann ich zu verstehen, welche Techniken Geschich- tenerzähler benutzen.»

Ab 1968 besuchte Sayles das Williams College in Massachusetts, wo er einen Abschluss in Psychologie machte, nach eigener Aussage, weil er in den Psychologie-Kursen ohne Folgen fehlen konnte und so mehr Zeit für das Theaterspielen und das Schreiben hatte.

Als Sayles 1972 vom College abging, schlug er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs durchs Leben und spielte regelmässig, halbprofessionell Theater. Höhepunkt seiner schauspielerischen Laufbahn war 1985 die Rolle als Tom in einer Inszenierung der »Glasmenagerie» von Tennesse Williams, wo er neben Joanne Woodward auftrat und hervorragende Kritiken erntete. Ganz gab Sayles die Schauspielerei nie auf, obwohl er sich zusehends auf Kurzauftritte in Filmen befreundeter Regisseure oder auf kleine Rollen in seinen eigenen Filmen beschränkte.

Der Erzähler

Sein eigentliches Talent entdeckte Sayles jedoch als Schriftsteller. 1975 erschien sein erstes Buch »The Pride of the Bimbos», die Geschichte eines Baseball-Teams, die wiederum aus den Geschichten seiner Mitglieder besteht. Und zwei Jahre später folgte »Union Dues», die Chronik eines Generationenkonflikts und gleichzeitig das differenzierte Porträt der amerikanischen Arbeiterklasse in den 60er Jahren.

Zwar war Sayles noch nicht beim Film angekommen, die Themen und Stilmittel, die später sein Werk als Regisseur prägen sollten, waren aber bereits alle vorhanden: Erzählend versuchte er dem auf die Spur zu kommen, was Gemeinschaften im In- nersten zusammenhält, und in welchem Verhältnis die Identität des Einzelnen zu jener der Gemeinschaft steht. Die adäquate literarische Form bestand für Sayles darin, Einzelgeschichten und -episoden zu einem Panorama zu verdichten und dabei weder den Blick für das Ganze noch für das Individuelle zu verlieren. Als Werkzeug stand ihm schon damals der pointierte aber nie sentenzenhafte Dialog zur Verfügung. Es sind Gespräche wie aus einem literarischen Skizzenheft, in denen ein Thema aufgebracht, umkreist, wieder verworfen und neugefasst wird, bis sich schliesslich aus den vielen suchenden Strichen der eine Strich herausbildet, eine »ligne clair» wie die Comic-Zeichner sagen würden, die aber dennoch nichts Dogmatisches oder Apodiktisches an sich hat.

Diese Kunst des redundant-pointierten Dialogs, wie man ihn nennen könnte, pflegt Sayles seither in all seinen Filmen: »Manchmal kann eine Zeile Dialog eine Menge Einstellungen sparen, die zwar grossartig aussehen aber nicht viel aussagen.» Damit steht Sayles im provokativen aber nicht unversöhnlichen Widerspruch zum allgemein akzeptierten Dogma, das beste und eigentlich letztgültige Mittel der filmischen Erzählung seien Bilder.

Der Doktor

Als John Sayles 1977 begann, für Roger Corman Drehbücher zu bearbeiten und zu schreiben, hatte er vom Filmgeschäft im Grunde keine Ahnung. Er wusste lediglich, dass ihn Filme interessierten und dass Drehbuchautoren im Schnitt besser verdienten als Schriftsteller.

Aber schon sein erstes Drehbuch für »Piranhas» (1978) von Joe Dante wurde zum Knüller. In den nächsten paar Jahren lernte Sayles bei Corman, wie man ein Drehbuch konstruiert, und wie man bereits beim Schreiben das Budget des Films im Auge behält.

Mit dem Geld, das Sayles damals mit billigen Horrorstreifen verdiente, produzierte er 1979 seinen ersten eigenen Film »The Return of the Secaucus Seven» – in vollständiger künstlerischer Unabhängigkeit. Ein Ablauf, der zum Muster werden sollte: Als Script-Doctor und Drehbuchautor verdingte sich Sayles ziemlich bedenkenlos an Hollywood ohne Ansprüche auf das end- gültige Produkt und oft auch ohne Nennung in den Credits. Er flickte im Verborgenen an Patienten wie »Love Field» (1991), »The Quick and the Dead» (1995), »Apollo 13» (1995) und an vielen Projekten, aus denen nie Filme wurden. Aber egal wie das Resultat letzlich aussah, Sayles wurde gut und besser bezahlt und investierte das so verdiente Geld in seine eigenen Projekte.

Obwohl John Sayles nie für Roger Corman Regie führte, war er als Produzent ein gelehriger Schüler: Für seinen ersten Film hatte er 40‘000 Dollar zur Verfügung, also musste er auf teure Kamerafahrten verzichten, dafür sollten viele Schnitte die fehlenden Kamerabewegungen kaschieren; arrivierte Schauspieler, die womöglich noch in der Gewerkschaft waren, konnte er sich nicht leisten; selbstverständlich war ein Kostümfilm tabu und auch mit Drehorten musste sparsam umgegangen werden. Aufgrund dieser Vorgaben entstand der Dialogfilm »The Return of the Secaucus Seven», die Geschichte einer Gruppe junger Menschen um die dreissig, die sich in einem Haus treffen und über ihr bisheriges und zukünftiges Leben diskutieren.

Ursprünglich nur gedreht, um bei Filmproduzenten vorweisen zu können, wurde der Film im Kino zum Überrraschungserfolg und von verschiedenen Zeitungen in die Jahresbestenliste aufgenommen. Für Sayles waren damit die Türen in Hollywood plötzlich weit offen, verschlossen sich aber für sein nächstes Projekt sogleich wieder, weil er die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, die entdeckt, dass sie lesbisch ist, erzählen wollte. Sayles blieb kompromisslos und so dauerte es anderthalb Jahre, bis er in mühseliger Kleinarbeit die 300‘000 Dollar zusammenbrachte, die »Lianna» (1983) schliesslich kostete.

Der Regisseur

Seinen ersten Film drehte Sayles, ohne vorher je einen Blick durch eine Kamera geworfen zu haben und eine Schnittma- schine durfte er nur deshalb mieten, weil er vorgab, sie auch bedienen zu können. Dennoch war Sayles von Anfang an der Inbegriff des unabhängigen Regisseurs, weil er seine Filme selbst schrieb, inszenierte, schnitt und finanzierte.

Während seine ersten Filme noch sehr statisch wirkten, abgefilmte Dialogstücke halt, wurde seine Bildsprache ab »Baby It’s You» raffinierter. Das hat Sayles zu einem grossen Teil den hervorragenden Kameraleuten zu verdanken, mit denen er trotz niedriger Budgets arbeiten konnte: Michael Ballhaus, Haskell Wexler und Robert Richardson. Bei ihnen ist Sayles sozusagen in die Lehre gegangen, und mit den langsam steigenden Budgets konnte er sich dann auch Kamerafahrten und technisch aufwändige Einstellungen leisten. Aber immer blieb er darauf bedacht, die Produktionsmittel möglichst optimal einzusetzen, so dass seine Filme stets teurer aussahen, als sie in Wirklichkeit waren.

Endgültig zum Independent-Regisseur aus Überzeugung wurde Sayles durch seine Erfahrungen mit »Baby It’s You (1983). Es war das erste und bislang letzte Mal, dass er sich für einen Film anheuern liess. Als nämlich die Verantwortlichen bei Paramount Pictures inne wurden, dass Sayles statt der erhofften Teenager-Romanze ein komplexes High-School-Drama drehte, versuchten sie mit allen Mitteln, ihm den Film zu entreissen. Zwar blieben sie letztlich ohne Erfolg, rächten sich aber inso- fern, als sie den fertigen Film praktisch ohne Werbeaufwand lancierten und damit an der Kasse verhungern liessen. Trotz oder gerade wegen den Auseinandersetzungen um »Baby It’s You» war Sayles jetzt bereit, endlich jene Stoffe zu verfilmen, die ihn schon als Autor beschäftigt hatten.

Mit »The Brother From Another Planet» (1984) wandte sich John Sayles seiner ureigensten Domäne zu – dem Gesellschaftsporträt: Ein Ausserirdischer strandet in Harlem und obwohl er dunkelhäutig wie seine ganze Umgebung ist, bleibt er doch ein Aussenseiter, ein Alien. Für uns Zuschauer aber wird er gerade deshalb zum willkommenen, unvoreingenommenen Führer durch den Kosmos »Harlem».

Diesselbe Funktion hat auch der Gewerkschaftsführer Joe Kenehan in »Matewan» (1987). Nicht er, sondern eine multikulturelle Gemeinschaft von Arbeitern steht Blickpunkt, eine heterogene Schicksalsgemeinschaft, die zunächst lediglich eines gemeinsam hat, das Los der Ausgebeuteten. Gerade das aber führt schliesslich zu dem historisch verbürgten, im amerikani- schen Kino bislang nur spärlich dokumentierten Arbeiteraufstand von 1920.

»Eight Man Out» (1988) dreht sich wieder um ein historisches Ereignis und abermals geht es um eine Gruppe, diesmal um das Baseball-Team der Chicago White Sox und den grossangelegten Wettbetrug, der 1919 zum sogenannten »Black Sox» Skandal führte.

Mit drei Filmen war Sayles zum Spezialisten für sozialkritische Filme geworden, in denen nie ein einzelner Held sondern stets eine Gemeinschaft im Mittelpunkt stand. Was zunächst auch wirtschaftliche Gründe gehabt hatte, wurde damit sein Marken- zeichen: der dialogstarke Ensemblefilm.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit »City of Hope» (1991), wo Sayles mit Dutzenden von Figu- ren ein grossstädtisches Beziehungsgeflecht inszenierte. Hier endlich gelang ihm die filmisch adäquate Umsetzung seines Erzählstils, indem die Kamera als unsichtbarer Protagonist durch das Labyrinth der Beziehungen streift. Sayles entwickelte dafür eine faszinierende Art, vor laufender Kamera zu schneiden, indem er eine Figur begleitet, bis diese scheinbar zufällig den Weg einer anderen Figur kreuzt und sich die Kamera scheinbar ebenso zufällig an die Fersen dieser neuen Figur hängt.

In gleicher Weise wird auch der Dialog behandelt, kaum ein Gespräch wird von Anfang bis Ende mitverfolgt, immer muss man sich mit Bruchstücken zufrieden geben. Dennoch zerfällt »City of Hope» nicht in Einzelteile sondern verdichtet sich schliesslich zu einer Stadtgeschichte – der Autor und der Regisseur haben sich gefunden.

Der Partner

So vielseitig und unabhängig John Sayles ist, ohne Maggie Renzi, seiner Lebensgefährtin, sind sein Werk und seine Entwicklung undenkbar. Bereits im College hatten sich die beiden kennengelernt, wurden aber erst nach Abschluss der Ausbildung, als sie gemeinsam Theater spielten, ein Paar. Schon »The Return of the Secaucus Seven» war im Grunde ihr gemeinsames Werk, denn Renzi spielte darin nicht nur eine Rolle, sie war zudem für die Organisation der Dreharbeiten zuständig und schnitt den Film zusammen mit Sayles. Von da an war Maggie Renzi, mit Ausnahme von »Baby It’s You» die Produzentin sämtlicher Filme.

Weitere langjährige, wenn auch weniger intensive Partnerschaften pflegt Sayles mit Schauspielern wie Chris Cooper, Joe Morton und vor allem David Strathairn, dem wir in »Passion Fish» und »Limbo» so grossartige Charakterporträts verdanken. Ebenfalls seit Urzeiten zum Team gehört Mason Daring, der bis auf »Baby It’s You» für sämtliche Sayles-Filme die Musik kom- poniert hat.

Das Arbeitsumfeld von John Sayles, das, wie enge Mitarbeiter versichern, nicht hierarchisch sondern partnerschaftlich organisiert ist, bringt einmal mehr zum Ausdruck, wie sehr »Gemeinschaft» nicht nur in seinen Geschichten zum Dreh- und Angelpunkt geworden ist.

Nach seinen sozialkritischen Filmen, in denen immer eine Gemeinschaft und fast immer Männer im Vordergrund standen, hatte Sayles das Bedürfnis, zu beweisen, dass er auch intimere und »fraulichere» Filme machen konnte. Das gelang ihm mit »Passion Fish» (1992) eindrücklich, ohne dass er dadurch sein Thema aus den Augen verlor. Wieder ging es um Gemeinschaft und Identität, um Abhängigkeit, Zuneigung und Verantwortung, diesmal allerdings auf engstem psychologischen Raum in der allmählichen Annäherung zwischen einer gelähmten, egozentrischen Schauspielerin und ihrer Pflegerin, die als ehemalige Drogensüchtige um das Sorgerecht für ihr Kind kämpft. Was ein Rührstück hätte werden können, wurde dank grossartigen Schauspielerinnen und »gefühlsechten» Dialogen zu einem sensiblen Kammerspiel in der weiten Kulisse Louisianas.

Auch in »The Secret of Roan Inish» (1994) spielen eine Frau, ein Mädchen genauer, und die Landschaft, diesmal Irland, eine zentrale Rolle. Die Verfilmung eines Kinderbuches, die auf Wunsch von Maggie Renzi entstand, wurde ziemlich überraschend ein Erfolg, wohl auch deshalb, weil ihm ein stimmungsvoller Märchenfilm nicht nur für Kinder gelang.

Und dann kam »Lone Star» (1996). In seinem bisherigen Meisterwerk brachte Sayles alles zusammen, was bei ihm zusammen gehört: Ein Film von faszinierender Dichte, vielschichtiges Gesellschaftsporträt genauso wie intimes Kammerspiel, in dem Bilder und Sprache nahtlos ineinandergreifen, wo nichts den ruhigen aber vitalen Erzählfluss behindert – ein Höhepunkt des Erzählkinos.

Der Unabhängige

War »The Secaucus Seven» so etwas wie der Startschuss in eine neue Ära des unabhängigen Films, so ist heute das Label »Independent» längst derart attraktiv geworden, dass kein Major-Studio darauf verzichten mag. Das hat dazu geführt, dass »Independent» zum Synonym für »Studiofilm» geworden ist. Und wieder steht Sayles fast alleine auf weiter Flur, denn als einer der wenigen hält er daran fest, im eigentlichen Sinne unabhängig zu sein, dass heisst von der ersten Idee bis zum letzten Schnitt die künstlerische Souveränität anzustreben.

Dieses Mass an Unabhängigkeitsdrang macht Sayles über die Qualität seiner Filme hinaus einzigartig und veranlasste Roger Ebert zum Ausspruch: »Wenn wir Francis Ford Coppola darüber jammern hören, dass er eine John Grisham Verfilmung machen muss anstatt seine »eigenen» Filme, dann können wir ihn nur daran erinnern, dass Sayles vorgemacht hat, wie ein Regisseur vollkommen unabhängig sein kann, wenn er will.»

»Men With Guns» (1997) ein sozial-politisches Drama in Mittelamerika, mit Laiendarsteller und in spanischer Sprache gedreht, bewies einmal mehr eindrücklich, dass er nach wie vor gewillt war, »seine» Filme zu drehen. Und mit »Limbo» (1999) schliesslich gewann er seinem Thema nochmals neue, überraschende Facetten ab, indem er zunächst eine Gesellschaft so differenziert und figurenreich einführt, wie wir das von ihm gewohnt sind, um dann unvermittelt unsere Erwartungen zu enttäuschen und nur noch mit einem Restbestand an Figuren weiterzumachen.

»All meine Filmprojekte sind im Limbus. Mein ganzes Leben ist im Limbus.» hat John Sayles einmal gesagt. Man darf gespannt sein, welche Geschichten in Zukunft noch daraus hervorgehen.

© THOMAS BINOTTO

PUBLIZIERT IM «FILM-DIENST» 20/2000

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