Ausbruchskünstler
Amatrello ist ein goldener Käfig. So beschreibt Denis Rabaglia in seinem visuellen Konzept das Postkartenidyll von «Marcello Marcello» (2008). Solche Käfige, allerdings nicht immer sehr goldige, durchziehen Rabaglias Werk mit überraschender Konstanz. Überraschend, weil der Westschweizer doch eigentlich Komödien schreibt und inszeniert. Weniger überraschend allerdings, wenn man weiss, dass ihm der Sinn nicht nach Schenkelklopfern steht, sondern nach Komödien, die am Rand zur Tragik balancieren, ganz in der Tradition Frank Capras, Patrice Lecontes oder Woody Allens. Das Tragische daran ist der Käfig – und komisch wird die Flucht daraus.
Erste Gehversuche
Um Rabaglias goldenen Käfigen auf die Spur zu kommen, sind seine frühen Kurzfilme geradezu eine Offenbarung:
In «Le tueur de midi» (1987) lässt ein Kinooperateur zur Probe die erste Rolle eines Films laufen, der am Abend Premiere haben wird. Es ist ein Krimi, und der beginnt damit, dass sich ein Auftragskiller auf die Suche nach seinem nächsten Opfer macht. Dieses ist ausgerechnet der Operateur, der daraufhin verzweifelt aus dem Kino zu fliehen versucht. Als ihm dies tatsächlich gelingt, sind die Käfige getauscht: Der Operateur kurvt auf der Leinwand wie ein Actionheld durch eine enge Serpentine – der Killer macht es sich im Kinosessel gemütlich, die Waffe geduldig im Anschlag.
«Le tueur de midi» ist ganz offensichtlich die Fingerübung eines Kinoverrückten: Film im Film, Alptraum ohne Dialog, Grossaufnahmen, Splitscreen und philosophische Zwischentöne. Mit unerbittlicher Gleichmässigkeit spult die Projektionsmaschine ihr aberwitziges Programm ab. Das Kino wird zum Käfig. Und bereits wird angedeutet, wohin die Reise Rabaglias führt: Im Kinofoyer hängen die Bilder zu Woody Allens «The Purple Rose of Cairo».
„Video ergo sum» (1989) ist ein weiterer Versuch, mit den Mitteln des Kinos über das Kino nachzudenken. Diesmal sitzt ein Warenhausdetektiv vor seinen Überwachungsmonitoren. Wie sich herausstellt, ist er nicht nur Spanner aus Profession sondern auch aus Leidenschaft. Deshalb bleibt er an einem Paar hängen, das sich streitet, trennt, wieder trifft, und schliesslich in einem furchtbaren Gewaltausbruch aufeinander prallt. Der Detektiv jedoch bleibt tatenlos vor den Bildschirmen sitzen, gefangen in seiner Welt als Beobachter. Video ergo sum – der Zuschauer existiert nur, weil es einen Film gibt.
In Rabaglias drittem, nach einem Stück von Jean-Claude Grumberg entstandenen, Kurzfilm «Michu» (1992) sitzen zwei Bürolisten in einem finsteren, tropfenden Keller mit einem winzigen, vergitterten Fenster. Ein klaustrophobisches Büro-Verlies, das nur über eine schmale Wendeltreppe erreichbar ist. Hier tippt Michu irgend etwas in eine antike Schreibmaschine, und hier sucht Pignon irgend etwas in alten Karteikästen. Zwischendurch stellt der ältere Michu inquisitorische Fragen, die der jüngere Pignon mit devoten Antworten zu parieren versucht. Aber die Hackordnung in diesem Käfig ist gnadenlos: Mit apodiktischen Etikettierungen wie «Schwuler!», «Kommunist!» oder «Jude!» definiert Michu die Identität des verdatterten Pignon immer wieder neu. Beide sind sie gefangen in einem Dickicht aus billigen und doch höchst wirksamen Vorurteilen.
100% komisch – 100% tragisch
Mit «Grossesse nerveuse» (1993), dem ersten langen Spielfilm, ist es mit den Fingerübungen vorbei. Rabaglia hat seinen optisch unauffälligen Stil gefunden, der auf den ersten Blick vor allem eines ist: Höchst amüsant – und damit ebenso oft wie hartnäckig unterschätzt.
Seine Satire über erwünschte und unerwünschte, erfüllte und unerfüllte Kinderwünsche gewann 1994 in Saarbrücken den Max Ophüls Preis und gehört zu jenen Filmen, die im Laufe der Jahre sogar noch an Schärfe gewinnen.
«Grossesse nerveuse» ist eine gelungene Komödie, weil sie sowohl rechte wie linke Moralisten nicht amüsieren wird. Da ist einer Hausmann, weil er die Macht über die Erziehung zurückgewinnen will. Da fährt eine junge Leihmutter mit ihrem Wagen ins Feld und bringt dort ein Kind zur Welt. Da predigt eine alte Frau die Abtreibung mit der Moralkeule des Gutmenschen. Da werden Hunde zu Ersatzkindern, weil sie als die besseren Menschen gelten. Und durch diese Upside-Down-Welt stolpert Martin als ein Niemand, der bei in einem One-Night-Stand das englische Au-pair-Mädchen Sally geschwängert hat.
In «Grossesse nerveuse» entfaltet sich Rabaglias Stil bereits mit scheinbar anstrengungsloser Selbstverständlichkeit: Das feine Gespür für Besetzung, das klassisch-elegante Storytelling und die effiziente Bildgestaltung.
Isabelle Townsend und Caroline Gasser (I mean Solange) verkörpern in diesem absurden Reigen einen Frauentypus, dem wir in jedem von Rabaglias Filmen begegnen. Sie sind Frauen, die nicht einem klassischen Schönheitsideal oder einer oberflächlichen Norm entsprechen, und die dennoch ungemein attraktiv und erotisch sind. So wie die wunderbare Natacha Koutchoumov in «Pas de panique». Diese unauffälligen Göttinnen sind Rabaglias subersive Verführerinnen. Sie bringen Männer dazu, dem Käfig – und sei er noch so golden – mit aller Macht entfliehen zu wollen.
Obwohl «Grossesse nerveuse» eine Vielzahl von Erzählsträngen verfolgt und das Thema «Schwangerschaft» auf mindestens fünf «Bühnen» variiert, verlieren wir nie die Übersicht. Zum einen, weil Rabaglia immer dicht an seinem Thema bleibt und zum anderen, weil er seine Hauptfigur, von Tom Novembre mit hinreissendem Hundeblick gespielt, fast nie aus den Augen verliert. Das gezielte Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen «Bühnen» erlaubt es Rabaglia, durch überraschende Assoziationen besonders pikante satirischen Spitzen zu setzen.
In «Grossesse nerveuse» widerspiegelt sich bereits der «vollwertige» Rabaglia, der seinen Stil allerdings in den folgenden Filmen weiter entwickeln und verfeinern wird.
Käfige gibt es in «Grossesse nerveuse» übrigens in rauen Mengen: Martins Freund Julien ist zum Hausväterchen geworden, das sich in seinem Heim verkriecht und daraus völlig verstört vertrieben wird, weil ihn sein Frau verlässt. Die Gärtnerin Solange hat sich in ihrem Gewächshaus verbarrikadiert – weil sie Martin ihre Liebe nicht gestehen kann. Und Martin ist in der Beziehung zu seiner Mutter, einer Drittwelt- und Abtreibungsaktivistin, gefangen. Ihre Begegnungen im leegeräumten Elternhaus sind von erdrückender Enge.
Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz wird es Martin schliesslich dennoch gelingen, dem Käfig zu entkommen. Und irgendwann hört sogar das Nasenbluten auf, das ihn bis dahin in jeder heiklen Situation befallen hat.
Befreit von Zwängen
Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz wird es Martin schliesslich dennoch gelingen, dem Käfig zu entkommen. Und irgendwann hört sogar das Nasenbluten auf, das ihn bis dahin in jeder heiklen Situation befallen hat.
Auch Ludovic (Frédéric Diefenthal) in «Pas de panique» (2006) hat Angst vor dem Leben in Freiheit. Die Phobie davor überfällt ihn immer dann, wenn er Verantwortung übernehmen soll. Das ist höchst ungünstig, da er von seinem Vater (Roland Giraud) das seit Generationen erfolgreich geführte Warenhaus übernehmen soll und seine Freundin Virginie (Julie Judd) endlich geheiratet werden will.
Von so viel Verantwortung umzingelt, fällt Ludovic regelmässig in Ohnmacht, erfindet Unfälle, schwindelt sich durchs Leben. Aber krank fühlt er sich nicht, und irre schon gar nicht. Dennoch landet er in einer Therapiegruppe. Dort wird er mit Léon konfrontiert, der nicht die kleinste Unordnung erträgt; mit Clémence, die nicht eine Sekunde allein sein kann; und mit Margaux, die nicht im Entferntesten berührt werden mag.
Wieder hat Rabaglia seine Hauptdarsteller klug gewählt: Neben der bereits erwähnten Natacha Koutchoumov und ihrem herben Charme gibt Frédéric Diefenthal mit oberflächlicher Blasiertheit einen Schnösel, der ebenso sympathisch wie lächerlich ist. Er wird bedrängt von Roland Giraud als liebenswürdig dominantem Vater, sowie von Julie Judd und ihrem neurotischen Übermass an Tüchtigkeit.
Ludovic und Virginies Wohnung ist so unpersönlich perfekt eingerichtet, dass nicht einmal der Ordnungsfanatiker Léon etwas daran auszusetzen hat – ein wahrhaft goldenes Verliess. Dafür wird ausgerechnet der Praxisraum des Psychiaters zum befreienden Gegenentwurf. Man atmet befreit auf in diesem schmucklosen Raum mit seinen von hinten beleuchteten kahlen Wänden aus Milchglas. Hier, in der Zweckgemeinschaft von Zwangsneurotikern, kann Ludovic endlich seinen eigenen Zwängen entkommen. Aus diesen möchteWer genau hinschaut, entdeckt darin sogar eine Parallele zu seinem sonst so fernen Vater. Auch dieser möchte sich im Grunde aus dem selbst aufgebauten Käfig befreien, sich übrigens auch sein Vater befreien, nur ahnt er selbst nichts davon:. Die Jacht als Vehikel der Selbstbefreiung hat er zwar bereits gekauft, aber in See stechen wird er damit nie.
Den Wendepunkt in «Pas de panique» und gleichzeitig der intimste Moment markiert eine wunderbare Liebesszene zwischen Ludovic, der keine Verantwortung übernehmen will und deshalb niemandem wirklich nahe kommen kann, und Margaux, die keine Berührung erträgt, weil sie nichts auf die leichte Schulter nehmen kann. Zwischen ihnen entfaltet sich – zärtlich umkreist von der Kamera – eine Sexszene ohne jede Berührung, die den Kern des gesamten Films enthüllt und gleichzeitig die Tür aus dem goldenen Käfig zeigt.
«Pas de panique» ist eine Komödie, in der Witz eine Frage der Form und nicht des Inhalts ist. Rabaglia macht sich keine Sekunde über Phobien lustig, aber er hat sich entschlossen, der Tragik des Lebens mit den Waffen des Humors zu begegnen. Mit diesem Humor wagt er es, all seine Filme, nicht nur diesen einen, bis an den Rand der Geschmacksentgleisung zu führen, ohne dabei abzustürzen. Rabaglia ist ein unverbesserlicher Humanist, dessen Witz und Mitgefühl all jenen Menschen gehören, die vor lauter Sorge ums Leben das Leben selbst verpassen.
Fremd hier und fremd dort
Zwischen diesen zwei typisch französischen Komödien aus dem bürgerlichen Milieu steht «Azzurro» (2000) in der Tradition Vittorio de Sicas. Es ist die sentimentale, altmodische, aber niemals verlogene oder rührselige Variante des tragikomischen Märchens vom verpassten Leben: Giuseppe de Metrio (Paolo Villaggio) hat dreissig Jahre in der Schweiz geschuftet, auf dass es seiner Familie, die er in Italien zurück gelassen hat, einmal besser gehe. Jetzt ist er zurück im gelobten Land, aber geniessen kann er den Lebensabend nicht: Er ist ein herzkranker Witwer im Haus am Meer, der zwar nicht schlecht lebt, aber doch nicht gut genug, um seiner blinden Enkelin Carla (Francesca Pipoli) die teure Augenoperation bezahlen zu können.
Giuseppes, kraftvoll und dennoch subtil gespielt vom italienischen Starkomiker Paolo Villagio, ist ein Gefangener seiner Heimatlosigkeit, denn dort, wo er gerade ist, wird er eingezwängt. Und nur dort, wo er nicht sein kann, lockt die grosse Freiheit. In Italien konnte Giuseppe nicht leben, weil er in der Schweiz Geld verdienen musste. Deshalb sind sein Sohn und seine Tochter für ihn Fremde geblieben, allenfalls verwandt aber nicht vertraut. In der Schweiz hat er sich nicht erlaubt zu leben, weil nur die Heimat zählte, als Phantom in der Ferne, dem er alles geopfert hat, auch die Liebe und seine Würde als Arbeiter und Mensch. Erst durch die einzige Tochter, die er je lieben konnte, durch seine Enkelin Carla – Francesca Pipoli in einem erstaunlichen Debut – entdeckt Giuseppe einen Weg, seine beiden verpassten Leben miteinander zu versöhnen.
Die Zeit dafür wird allerdings knapp, und so reist er Hals über Kopf mit Carla ins gelobte Landvon Apulien nach Genf ins «gelobte Land», weil er dort noch ein paar Rechnungen offen hat, durch deren Begleichung vielleicht die heilende Augenoperation möglich wird.
Wie ist es denn in der Schweiz, will Carla auf der Reise wissen. Ein gastfreundliches Land, in dem alles sauber ist, die Menschen pünktlich und alles wie am Schnürchen klappt, schwärmt Giuseppe. Als sie dann da sind stellt sich das vermeintliche Paradies gelobte Land nicht einmal als goldener Käfig heraus: Telefon und Taxi fressen das wenige Geld in Windeseile; dort, wo es einst «Plat de jour» gab, herrscht deprimierender Mief; und die Baufirma Broyer, in der Giuseppe gearbeitet hat, ist dem Konkurs nah.
Im Zentrum von «Azzurro» steht nicht Carla sondern Giuseppe. Ihre Augenoperation ist eine Metapher für Giuseppes Blindheit. Ihm müssen endlich die Augen aufgehen für die eigene Lebensgeschichte, damit er sich damit versöhnen und gleichzeitig daraus befreien kann.
«Azzurro» wurde zu Rabaglias bislang erfolgreichstem Film und 2001 mit dem Schweizer Filmpreis für den besten Spielfilm ausgezeichnet. Denis Rabaglia, Sohn eines Italieners, beschreibt darin das Lebensgefühl so vieler Secondos: Sie sind in der Schweiz verwurzelt und fremd zu gleich. Die Heimat ihrer Eltern, die sie selbst nur als Touristen und nie als Heimat erlebt haben, wird gerade deshalb oft zum verklärten Paradies.
Zu schön, um Echt zu sein
Mit «Marcello Marcello» (2008) leiht uns Rabaglia genau diesen verklärten Blick des Secondos, der sich ein Postkartenidyll erträumt. Reines Blau, zartes Rosa, pittoresk erdige Rot-, Gelb- und Brauntöne, atemberaubende Meeresstimmungen und Sonnenuntergänge. Die Insel Amatrello kennt keine dunklen Schatten und wirkt damit wie ein mediterraner Ableger Seahavens. Und es ist genau wie die Musterstadt in Peter Weirs «Truman Show»: Eein goldener Käfig.
Als Tourist oder Kinogänger mag man sich dieser Idylle für neunzig Minuten genussvoll hingeben. Man wärmt seine nüchterne Krämerseele an pittoresken Karikaturen wie dem Pfarrer auf seinem Motorroller, den beiden schrulligen reichen Schwestern, dem heimlich rockenden Friseur und dem Streit um des Hahnes Schrei zwischen einem Aristokraten und einem Metzger. Das enge Leben in den engen Gassen von Amatrello bietet wie einst das Dorfin den 1950er Jahren die kleine Welt Don Camillos und Peppones viel Stoff für pralle Komik.
Aber wenn man hier leben müsste? Wenn die reizenden Traditionen zu alltäglichen Fesseln würden? Dann entpuppt sich Amatrello als Hölle. Marcello spürt das schon lange, und seine Mitbürger können es auch nur mühsam verdrängen. «Marcello Marcello» ist unter seiner touristischen Oberfläche viel abgründiger, als es die ultra-romantischen Bilder suggerieren. Auf dieser Insel ist es viel zu schön, als dass man hier wahrhaftig am Leben bleiben könnte.
Rabaglias jüngstes Werk lässt sich ohne grössere Anstrengung als Ferienkitsch geniessen. Aber wer deshalb glaubt, Rabaglia habe sich endlich doch damit abgefunden, dass es an keinem Ort der Welt so angenehm zu leben sei, wie im goldenen Käfig, der macht sich genauso leichtfertig etwas vor, wie die Insassen Amatrellos sich selbst belügen.
Wer dagegen Rabaglias Werk von «Le Tueur de midi» bis «Marcello Marcello» kennt, wird der plakativen Idylle nicht trauen und selbst im schönsten Sonnuntergang und bei der lieblichsten Liebesgeschichte ahnen, dass der Komödiant Rabaglia nicht zur Kapitulation bereit ist: Komödie ist und bleibt seine Strategie, das Schwere im Leben zu ertragen.
Diesen Kampf gegen die Tragik führt Rabaglia mit kompromisslosem Ernst und ansteckender Vitalität. Er kämpft ihn ebenso leidenschaftlich wie selbstkritisch, ebenso klar wie differenziert. Aber das scheinbar Leichte braucht viel Energie, so dass es in fünfzehn den ersten zwanzig Jahren seiner Karriere nur zu vier Filmen gereicht hat. Unersättliches und unerbittliches Publikum, das man ist, giert man natürlich nach mehr. Aber wer Rabaglias Filme beherzigt, sehnt sich nicht mehr nach dem goldenen Käfig mit seinem aufgezwungenen Überfluss und wählt lieber das kleine erkämpfte Glück – selbst wenn er dafür seinen Appetit zügeln muss.
© THOMAS BINOTTO
PUBLIZIERT 2009 ALS «DIRECTOR’S PORTRAIT» FÜR SWISSFILMS