Wer Filme liest, hat mehr vom Sehen

Dass ich mich als «Filmleser» jeweils erklären muss, zeigt die dringende Notwendigkeit, dies auch zu tun. Und so habe ich nach zehn Jahren Praxis einen Grundlagentext zu meinem Verständnis von Filmlesen versucht.

Kinder, die eingeschult werden, lernen lesen und schreiben. Das empfinden wir als Selbstverständlichkeit. Die Schrift-Sprache verlangt ganz offenkundig sowohl die Kompetenz des Lesens wie die des Schreibens. Beide Kompetenzen bedingen einander. Wir zweifeln nicht daran, dass es gute und weniger gute Leser gibt. Und auch nicht, dass das Lesen genau wie das Schreiben ein vielschichtiger, partizipativer, kreativer und auch individueller Prozess ist.

Bild-Sprache als curriculare Leerstelle

Im Umgang mit Bild-Sprache verhält sich die Schule wesentlich unbedarfter. Die Kinder schauen ja alle bereits Filme, wenn sie eingeschult werden. Was soll es da noch zu lernen geben?

Filme gelten nach wie vor als Konsumprodukt. Und bei dieser Einschätzung bleibt es gemeinhin die gesamte Schulzeit hindurch. Bezeichnend sind die Gelegenheiten, bei denen Filme mehrheitlich eingesetzt werden: Sie werden gegen Ende des Schuljahres gezeigt, wenn es nicht mehr ernst gilt. Für die abendliche Unterhaltung im Klassenlager ausgesucht. Locken als Belohnung, wenn man sich durch ein Buch gekämpft hat. Sie bebildern historische Epochen oder dienen als inhaltliches Sprungbrett für eine Diskussion in Sozialkunde.

Der neue Lehrplan für Bayern, der sich jetzt in der Einführungsphase befindet, ist einer der ersten im deutschsprachigen Raum, der Film und Buch auf Augenhöhe stellt. Filme werden als eigenständige Textgattung anerkannt und dürfen nun mit ministerieller Ermächtigung auch so behandelt werden.

Auch im Schweizer Lehrplan 21 wird Film aufgewertet, aber das Filmlesen bleibt hier bestenfalls eine Randnotiz. So erscheint der Film nach wie vor als Mittel zum Zweck. Im Zentrum steht die Mediennutzung und -wirkung. Nicht aber das Durchdringen von Filmtexten. Mit Begriffen der Literaturwissenschaft ausgedrückt: Die Grammatik des Films, seine Dramaturgie und seine Rhetorik werden als Lernstoff kaum beachtet. Oder polemisch verknappt: Es geht um Anwenderwissen, nicht um Hermeneutik.

Es ist deshalb kein Zufall, dass unter Filmbildung die meisten Lehrerinnen und Lehrer das Drehen von eigenen Filmen verstehen, das Filmschreiben also. Formale Mittel werden auch hier vor allem als Mittel zum Zweck gelernt. Lesen durch Schreiben gewissermassen.

Damit wird nach wie vor weitgehend übersehen, dass Filmtexte genauso vielschichtig sind wie Schrifttexte. Dass es neben dem Charisma des Filmschaffenden auch das Charisma des Filmlesers gibt. Dass Filme in ihrer Rezeption ebenso komplex sind wie Bücher.

Sehen ist mehr als anschauen

Der Begriff «Filmleser» ist deshalb eine gezielte Irritation, um deutlich zu machen, dass Filme zu sehen mehr bedeutet, als sie bloss anzuschauen.

Das beginnt schon damit, dass ein Film weder auf der Leinwand noch auf dem Bildschirm gesehen wird. Er fügt sich erst in unserem Kopf zusammen. Wenn wir aus dem Kino kommen, dann wurde uns zwar ein und derselbe Film gezeigt – wir haben aber unsere je eigenen Filme wahrgenommen. Die kontroversen Diskussionen über das, was wir eben gesehen haben wollen, bezeugen dies immer wieder. Rezeption ist also immer und automatisch Interpretation.

Die Komplexität des Filmlesens, zeigt Platons Höhlengleichnis. Es wird deshalb in der Filmtheorie immer wieder gerne aufgegriffen. Und es erinnert bereits in seinem bildhaften Aufbau an das Kino: Schatten, die sich auf einer Höhlenwand abzeichnen. Menschen, die als Zuschauer diese Schatten für unmittelbare Wirklichkeit halten. Die diese Illusion nicht entlarven können, weil sie an ihren Sitz gefesselt nur nach vorne schauen. Die also weder die Lichtquelle noch die Wirklichkeit erkennen können, die für das Schattenspiel zuständig sind. Die noch nicht einmal bemerken, dass auch die Schatten kein Abbild der Wahrheit, sondern die Projektion eines Figurenspiels sind.

So lässt sich das Kino in der Tat beschreiben. Wir sollten uns aber bewusst bleiben, dass Platon eben nicht das Kino beschreibt. Er beschreibt vielmehr, wie wir Menschen den Kosmos zu lesen versuchen. Dass er dafür ausgerechnet auf Bildsprache zurückgreift, hat seine innere Logik. Vielleicht ahnte Platon bereits, was inzwischen Allgemeinwissen ist, dass nämlich Bilder viel schneller, viel intensiver und viel nachhaltiger wahrgenommen werden als Schrift.

Bilder empfinden wir instinktiv als echt, als objektiv, als klar und eindeutig. Sie erwecken den Eindruck, sich von selbst zu erklären.

Bewegte Bilder steigern diesen Effekt noch. Um bei Platons Bild anzuknüpfen: Filme sehen wir nicht als distanzierte Zuschauer. Wir tauchen in das Schattenspiel auf der Höhlenwand selbst ein und halten uns für einen Teil davon. Dies lässt sich eindrücklich an der Exposition von François Truffauts «La nuit américaine» demonstrieren und unmittelbar nachvollziehen: Wenn die Strassenszene durch den Ruf des Regisseurs unterbrochen wird, fühlen wir uns aus der Realität herausgerissen.

Die Anweisung «Coupé!» löst bei uns Ernüchterung aus: «Ach so, es handelt sich hier bloss um Dreharbeiten.» Danach lässt Truffaut dieselbe Szene nochmals durchlaufen. Nun hören wir jedoch die Regieanweisungen. Und unweigerlich fühlen wir uns als objektive Zuschauer, die den Blick von der Leinwand in die Realität wenden, vom Schattenspiel zur Lichtquelle. Bis wir erkennen müssen, dass wir unseren Blick erneut nicht von der Höhlenwand abwenden konnten.

Wir sitzen nach wie vor gebannt auf unseren Plätzen und sehen immer und immer wieder nach vorne ins Schattenspiel. Truffaut weiss das als Schöpfer selbstverständlich ganz genau. Und deshalb setzt Delerues barockisierende Fanfare erst am Ende dieser Exposition ein. Jetzt erst geraten wir so richtig in Verzückung. Wir können aus dem Film, genau wie aus Platons Höhle, nicht wirklich ausbrechen.

Oder doch? – Platon scheint es ja geschafft zu haben, wie sonst könnte er uns das Höhlengleichnis erzählen. Filmlesen bedeutet so, in die Welten des Films nicht nur einzutauchen, sondern sie auch zu erklären. Also nicht bloss zu entdecken, wie mächtig diese Bildermaschine funktioniert, sondern auch einen Blick auf die Maschine selbst zu erhaschen und Erklärungen zu versuchen, wie sie funktioniert. Mit welchen Mitteln arbeitet der Film? Welche Wirkung erzielt er damit? Und was will ich davon halten?

Wieso – wie – warum?

Diese Fragen führen von der Theorie direkt zur Praxis des Filmlesens. In aller Kürze zusammengefasst geschieht diese durch die Arbeit mit kurzen Filmausschnitten, die zunächst ein Erlebnis generieren – also das Eintauchen ins Schattenspiel – dann aber dieses Erlebnis in seiner Gemachtheit und seiner Vielschichtigkeit reflektieren.

Die zentrale Frage des Filmlesens lautet deshalb: «Wieso?» – «Wieso bringt mich die eine Szene zum Weinen und eine andere zum Schwitzen?» – «Wieso muss ich lachen?» – «Wieso empfinde ich Action tatsächlich als Bewegung?»

Diese Grundfrage führt zum «Wie?» und zum «Warum?» – «Wie hat die Regie das gemacht?» – «Mit welchen Mitteln arbeitet sie?» – «Und warum wendet sie diese Mittel genau hier an?» – «Warum werde ich davon berührt – oder auch nicht?»

Eine Filmszene wird also im optimalen Fall zunächst erlebt, dann analysiert und schliesslich wieder in eine Synthese überführt. Das Filmerlebnis soll nicht seziert und schon gar nicht wegrationalisiert werden. Die Reflexion soll vielmehr dazu führen, dass unser Filmerlebnis noch intensiver, noch vielschichtiger und noch geheimnisvoller wird.

Arbeit mit kurzen Filmausschnitten

Kurze Filmausschnitte bieten sich dafür in mehrfacher Hinsicht an. Ganz pragmatisch lassen sie sich besser in den Schulalltag einfügen als komplette Spielfilme. Selbst ein mehrmaliges Anschauen ist möglich, ohne dass dabei der Stundenplan aus den Fugen gerät.

Ausschnitte lassen sich zudem leichter überblicken. Fragen, die nach 120 Minuten Film kaum zu bewältigen sind, lassen sich nach einem zweiminütigen Ausschnitt leichter beantworten. Das Wesentliche tritt im Ausschnitt häufig deutlicher hervor als im integralen Werk – vorausgesetzt, der Ausschnitt ist mit entsprechender Sorgfalt gewählt.

Die Sequenzanalyse des gesamten Films hat natürlich – zumal in der Filmwissenschaft – ihre Berechtigung und manchmal auch ihre Notwendigkeit. Aber selbst geübte Analytiker verlieren bei der grossen Zerlegung nicht selten gerade das aus den Augen, was sie eigentlich besser sehen wollten.

Ein weiteres Argument für die Arbeit mit Filmausschnitten ist die Möglichkeit, verschiedene Filme, Stile, Genres und Epochen miteinander zu vergleichen und zueinander in Beziehung zu setzen.
Mit der Ankündigung, nun werde Murnaus Meisterwerk «Der letzte Mann» in voller Länge gezeigt, wird man bei Schülerinnen und Schülern kaum Begeisterung auslösen. – «Über 90 Jahre alt, stumm, schwarzweiss, geht’s eigentlich noch?!»

Ein gut ausgewählter und eingesetzter Ausschnitt dagegen, der lässt sich aushalten. Wenn daraufhin der Wunsch auftauchen sollte, den gesamten Film zu sehen, dann entsteht eine willkommene pädagogische Dynamik, bei der man als Lehrer und Lehrerin anstatt Pflichtstoff zu verordnen endlich Wünsche erfüllen darf.

Filmlesen reflektieren, entdecken, einüben

Zu dieser positiven Dynamik gehört, dass man Schülerinnen und Schüler beim Filmlesen dort abholt, wo sie hinschauen. Die Aufgabe des Filmlesers besteht also zunächst und vor allem nicht darin, die guten von den schlechten Filmen zu trennen. Er bestimmt nicht von hoher Warte, was eine objektiv gute und richtige Literaturverfilmung ist. Es geht vielmehr darum, die Komplexität des Lesevorgangs zu reflektieren, den Prozess des Filmlesens zu entdecken und einzuüben. Diesen Prozess kann man im Marvel-Universum genauso gut anstossen wie in der sozialen Wüste Panems. Und dieser Prozess wird in der Schule nicht zur Vollendung geführt, sondern angestossen. Schülerinnen und Schülern sollen nicht Urteile beigebracht werden – sie sollen zur eigenen Urteilsfähigkeit ermächtigt werden. Auf die häufige Schülerfrage: «Was ist ein guter Film?» antworte ich jeweils: «Ein Film, den ich immer und immer wieder ansehen kann und dabei jedes Mal neue Dinge entdecke.»

Mit Vorteil beginnt das Filmlesen ganz bewusst dort, wo wir gerne hinschauen und eröffnet dann neue Blickwinkel auf das scheinbar Vertraute. Blickwinkel also, die sich nicht unmittelbar anbieten oder denen wir uns gerne verweigern würden.

Diese Bewegung vom Bekannten zum Unbekannten, vom scheinbar Trivialen zum Komplexen, vom Populären zum Klassischen, vom Konkreten zum Theoretischen kann durchaus als didaktische Folgerung aus dem Höhlengleichnis verstanden werden.

Nach einer Filmlesung unter dem Titel «Panem ist überall – Die Macht der Bilder und Bilder der Macht» erhielt ich von einem 15jährigen Schüler folgende Rückmeldung: «Wie Sie ‹Tribute von Panem› mit zum Beispiel Hitlers Olympiade zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg verglichen, war sehr neu für mich. ‹Die Tribute von Panem› ist mein Lieblingsfilm, ich habe alle Teile gesehen. Ihre Art, wie Sie Propagandavideos oder Propagandafotos darstellten und darüber erzählten, hatte eine sehr philosophische Art. Etwas während der ganzen Vorlesung verriet mir, dass etwas Philosophie dahintersteckte. Dieser Augenblick kam, als Sie Katniss Everdeen genauer beschrieben und diese entscheidende Frage öfters fragten: ‹Wer sind eigentlich wir selbst?› – Ich hätte eine Frage an Sie. Nach allem was Sie erzählt haben, würde ich sehr gerne Ihre Äusserung zu dieser Frage hören: ‹Was macht eigentlich meine Identität aus?›»

Filmlesen als kreativer Akt und Sehschulung

Je weniger wir das Schattenspiel zunächst hinterfragen, desto grösser ist der Überraschungseffekt, wenn es dann doch geschieht. Wenn wir das Geheimnis hinter dem leicht Durchschaubaren entdecken, neben dem Populären und unter dem vermeintlich Oberflächlichen, dann öffnet sich der Weg in die Tiefe und Breite besonders spektakulär, dann wird die Methode wieder zum Medium.

Das kann allerdings nur gelingen, wenn das Filmlesen selbst vom Prozess des Filmlesens lernt, wenn es seine eigene Dramaturgie entdeckt, wenn die Reflexion über das Erzählen selbst wieder zur Erzählung wird.

Dann emanzipiert sich das Filmlesen endgültig von der Vorstellung, Filme zu sehen sei lediglich ein Konsumverhalten. Dann wird Filmlesen zum eigenen kreativen Akt.

Spätestens seit dem letzten US-amerikanischen Wahlkampf ist die Notwendigkeit einer Sehschulung – nicht nur für Schülerinnen und Schüler – offensichtlich geworden. Die Bereitschaft wächst, das Lesen von Bild-Sprache als Kernkompetenz zu begreifen. Bilder sollten nicht bloss dazu dienen, ein Schulbuch gefälliger zu gestalten. Sie sind unser wichtigstes Mittel, den Kosmos zu beschreiben.

Das Lesen von Bildern ist deshalb von fundamentaler Bedeutung. Und dieses Lesen wird nicht zuletzt Talente von Schülerinnen und Schülern zu Tage fördern, die in der Schule sonst eher selten Beachtung finden.

Die allzu oft wiederholte Behauptung, Fake-News seien ein neuer Trend, weist allerdings erneut darauf hin, wie naiv wir nach wie vor in der Höhle hocken – gerade so, als hätten wir noch nie etwas von Platon gehört.

Nach fast 2500 Jahren Höhlengleichnis und gut 120 Jahren Kino ist es höchste Zeit, dass wir das Filmlesen genauso als Kulturtechnik erkennen und fördern, wie wir es beim Textlesen längst tun. Damit wir das bewegte Bild als Mittel entdecken, diese Welt zu beschreiben und das Lesen dieser Bilder als Versuch begreifen, diese Welt zu verstehen. Denn die Schatten auf der Leinwand sind nicht bloss Illusion, denn es ist bei aller Mittelbarkeit der Darstellung letztlich doch die Wirklichkeit, die diese Schatten wirft.

Thomas Binotto – Publiziert in «vpod-bildungspolitik» 204 / 2018

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