Jacques Tati (1907-1982)

Katastrophaler Triumph

1974 war Jacques Tati am Boden zerstört: Seine Produktionsfirma war Konkurs gegangen, seine Filme wurden an einen italienischen Immobilienspekulanten verschachert, das gesamte Privatvermögen samt Haus war weg, nie mehr sollte er einen Spielfilm drehen. Es war das brutale Ende eines Traums, der einst so vielversprechend «Playtime» geheissen hatte. Monsieur Hulot alias Jacques Tati hatte sich als Grossunternehmer versucht und war spektakulär gescheitert.

Tati und die Technik

Gescheitert war Tati unter anderem an seinem Faible für Technik. Ein tragikomisches Paradox, denn bereits 1947 hatte er sich in «Jour de fête» über den Fortschrittsglauben lustig gemacht: «Rapidité, rapidité!», posaunt der Postbote François von seinem Rad und setzt sein Credo immer absurder in die Tat um. Geschwindigkeitsrausch und Technikbegeisterung boten Tati eine unerschöpfliche Quelle für Gags – gleichzeitig gehörte er selbst zu den Opfern: «Jour de fête» wurde in einem Farbverfahren aufgenommen, von dem man damals noch keine Kopien ziehen konnte. Erst 1994 gelang es seiner Tochter, Sophie Tatischeff, die ursprünglich geplante Farbfassung wiederherzustellen. Während Tati für diesen seinen ersten langen Film noch auf Nummer Sicher gegangen war und zugleich eine schwarzweisse Fassung gedreht hatte, legte er bei «Playtime» jegliche Zurückhaltung ab: Der Film wurde auf 70 Millimeter gedreht und mit einem 6-Kanal-Stereoton versehen – was 1967 nur die wenigsten Kinos in Frankreich vorführen konnten.

Tatis Verhältnis zur Technik war paradox. In vier seiner Filme machte er sich variantenreich und treffsicher über eine technisch hochgerüstete Welt lustig. Als Filmemacher war er selbst stets auf der Höhe der Zeit. Sogar noch mit «Parade» (1974), seinem letzten Film, wurde der 65-Jährige zum Pionier, weil er als einer der Ersten mit einer Videokamera drehte. Der Mann, der als Hulot so liebenswürdig unbeholfen und wohltuend chaotisch war, wurde als Regisseur zum rücksichtslosen Perfektionisten. Über zwei Jahre dauerten die Dreharbeiten zu «Playtime». Tati arbeitete sich in seinen tief gestaffelten Szenen jeweils vom hintersten bis zum vordersten Darsteller durch, um jedem minuziöse Anweisungen für die Bewegungen zu geben – ohne sie je psychologisch zu begründen. Jede Figur wurde zu Tati. Im Spiegelkabinett seiner Stadt aus Glas und Stahl ein fast schon beängstigendes Phänomen.

Als sich seine inszenatorischen Ansprüche an den Originalschauplätzen nicht realisieren liessen, baute Tati ausserhalb von Paris eine Filmstadt. In fünf Monaten wurde auf über 15 000 Quadratmetern ein Gebäudekomplex aus Glas, Stahl, Beton, Holz und Pappe errichtet: eine Geisterstadt mit verschiebbaren Häuserfronten und scheinbar endlosen, perspektivisch verzerrten Fluchten. Ob solcher Technikbegeisterung und solchem Perfektionsdrang drängt sich dann doch die Frage auf, ob Tatis Filme tatsächlich so technikfeindlich sind, wie sie scheinen. Es stimmt, der Briefträger François gibt in seinem Eifer eine lächerliche Figur ab, aber zugleich ist er liebenswürdig in seinem altmodischen Berufsethos. Die State-of-the-Art-Villa der Arpels in «Mon oncle» (1958) bietet zwar Gelegenheit zu unzähligen Gags, strahlt aber auch zeitlose Eleganz aus. Und erst die Architektur in «Playtime» – was Tati damals als Stadt der Zukunft gebaut hat, ist durchaus monströs, aber auch überwältigend schön.

Bei aller Skepsis hatte Tati zur Technik ein fast romantisches Verhältnis. Wenn Plasticrohre plötzlich als Würste aus der Maschine heraustreten, wenn die Neonbeleuchtung über dem Restauranteingang zum Wegweiser für schwankende Säufer wird, wenn ein Stau sich als Karussell dreht, wenn ein Autounfall sich in ein bizarres Ballett verwandelt – immer dann, wenn Technik mit Leben gefüllt wird, wenn scheinbar leblose Dinge sich emanzipieren und ihre einschüchternde Perfektion verlieren, immer dann (aber natürlich nicht nur dann) wird Tati zum Poeten.

Poetische Zerstörung

Und weil Tati ein Poet ist, ist es falsch, die «Royal Garden»-Sequenz aus «Playtime» als einen Akt der Zerstörung zu beschreiben. Vielmehr handelt es sich um eine Umgestaltung. Nachdem die amerikanischen Touristen einen Tag lang nur die Spiegelbilder des «echten» Paris erhaschen konnten, sind sie im «Royal Garden» nicht mehr zu halten. Sie verwandeln das Nobeletablissement in eine fröhliche Kneipe. Dieses Ballett der Verwandlung wird oft mit «The Party» von Blake Edwards verglichen. Aber der Witz dieser beiden Filme könnte unterschiedlicher kaum sein. Während Edwards immerzu den Slapstick sucht – und damit die Zerstörung -, will Tati nie den Klamauk. Er inszeniert den Gag als eine Laune des Zufalls, ein Augenzwinkern, manchmal im Hintergrund versteckt, meist schon vorbei, wenn man es wahrnimmt. Immer wieder hat Tati betont, dass er seine Gags nicht produziere, sondern beobachte. Folgerichtig tritt Hulot als Urheber der Komik immer mehr in den Hintergrund, bis er in «Playtime» vollends anonymisiert wird und unzählige Hulots für Verwirrung sorgen – wenigstens bei uns pawlowisierten Zuschauern.

Damit wollte Tati das erreichen, was er das «demokratische Lachen» nannte: weil keine komische Figur mehr im Zentrum steht, die ihr Publikum zum Lachen zwingt. Wer bei Tati lachte, sollte es selbstverwaltet tun. Diese Selbsteinschätzung Tatis trifft allerdings nur beschränkt zu, denn seine Filme sind das Resultat eines geradezu besessenen Gestaltungswillens. So wird der Zuschauer selbstverständlich weiterhin manipuliert, nur bleibt der Komiker für die Kamera unsichtbar. Und doch muss man Tati Recht geben. Denn tatsächlich verschwindet spätestens in «Playtime» das komische Epizentrum, was den Zuschauern erlaubt, sich selbst unters Volk zu mischen und zu Flaneuren in Tatis Trabantenstadt zu werden, zu Gag-Entdeckern.

Zeitlos

Als «Playtime» 1967 in Paris Premiere hatte, war er nicht nur um ein Vielfaches teurer geworden als ursprünglich geplant, mit 153 Minuten Länge ging er auch weit über das hinaus, was das Publikum verkraften konnte. Dass Tati daraufhin 18 Minuten herausschnitt und François Truffaut eine vielzitierte Lobeshymne anstimmte, konnte das finanzielle Desaster nicht mehr verhindern. Als der Film 1978, vier Jahre vor Tatis Tod, nochmals ausgewertet wurde, war er auf weniger als zwei Stunden gekürzt; die Flügel waren ihm gestutzt. Erst durch die Anstrengungen von Sophie Tatischeff und François Ede konnte «Playtime» in den neunziger Jahren teilweise rekonstruiert und vollständig restauriert werden.

Dass «Playtime» jetzt in gewissem Sinne als neuer Film gezeigt werden kann – und er sieht tatsächlich überwältigend frisch aus -, hätte Tati späte Genugtuung bereitet. Für ihn wurden Filme nie fertig. Vielleicht wird man bei «Les vacances de M. Hulot» über Tatis Weitsicht staunen, die schon 1953 den «Weissen Hai» vorweggenommen hatte. Tatsächlich wurde der Gag mit dem zusammengeklappten Faltboot aber von Tati höchstpersönlich in den siebziger Jahren mit nachträglich gedrehtem Material zur Parodie ausgebaut. – Vor 36 Jahren eine finanzielle Katastrophe, heute ein künstlerischer Triumph. Wer «Playtime» und all die anderen Tati-Filme (wieder)sieht, wird entdecken, dass aus Tati – vielleicht überraschenderweise, aber bestimmt nicht zufällig – etwas geworden ist, was er angeblich nie sein wollte: ein moderner Autor, weder voraus noch hinterher, sondern zeitlos.

© THOMAS BINOTTO

PUBLIZIERT AM 4. JULI 2003 IN DER «NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG»

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