Andreas Dresen (*1963)

 

DAS LEBEN: ZUM HEULEN KOMISCH – EIN WERKSTATTGESPRÄCH MIT ANDREAS DRESEN

«Was ist das denn für eine Krankheit?» – «Ich weiss nicht, wie die heisst.» – «Hat denn deine Mama oft Schmerzen?» – «Ja, an der Seele.» – «An der Seele? Weisst du, was das ist, die Seele?» – «Ja. Das ist irgendwie in dir drin.» – «Und wie sieht die aus?» – «Die kann man nicht sehen.» – «Ist das was Gutes oder was Schlechtes?» – «Ich glaub mal was Gutes.» – «Bestimmt!»

«Die Polizistin» (Drehbuch Laila Stieler) von Andreas Dresen

«Diese Arbeit macht einfach irren Spass!» – Darf so etwas ein Filmemacher aus Deutschland bekennen? Ausgerechnet aus dem Land, wo der fatale Hang zum Meisterwerk gepflegt wird; wo man an der Kunst leidet; wo man Filme nicht machen will sondern muss; wo ständig das innere Genie zum Durchbruch nervt. Zugegeben, solche Zuspitzung ist pure Polemik, und Andreas Dresen relativiert sie auch sogleich. Er empfindet sich nicht als Exot in der deutschen Kinolandschaft. Inzwischen gehört er dort sogar zu den wichtigen und erfolgreichen Filmemachern. Einer, der dazu beiträgt, dass wir uns plötzlich wieder auf deutsches Kino freuen.

Allerdings, noch Ende der 90er Jahre als er «Nachtgestalten» plante, war kaum jemand bereit, in einen «schmutzigen, kleinen Film» über Verlierer und Randständige zu investieren. Damals waren Schenkelklopfer-Lustspiele angesagt, zwar auch nicht gerade auf Meisterwerkstatus getrimmt, aber dennoch meilenweit von Dresens Ansprüchen entfernt, die er mit charmanter Tiefstapelei vertritt: «Im Kino gemeinsam zu lachen, das ist fast schon eine Therapie gegen Einsamkeit, weil man dadurch mit wildfremden Menschen gemeinsame Erfahrungen teilt. Aber in einer guten Komödie muss man natürlich auch weinen können.»

Dresen hat nichts dagegen, wenn man seine Filme als Komödien bezeichnet, solange man damit nicht Oberflächlichkeit sondern die Art und Weise meint, wie sie mit Drama und Tragik umgehen. «Wenn ich mehrere Jahre meiner Lebenszeit für einen Film einsetze, dann muss es um etwas gehen, das mich existentiell beschäftigt.»

Die Themen in Dresens Filmen sind deshalb alles andere als leichtgewichtig sondern gesellschaftspolitisch brisant. Aber eben, Komödie ist für Dresen keine Frage des Inhalts sondern der Form. «Bei ‚Willenbrock’ haben wir oft ganz gezielt die Pointe gesucht, um das Drama zu brechen. Wenn er nach einem brutalen Überfall plötzlich im Pyjama verstört vor einer peinlich berührten Hochzeitsgesellschaft steht, dann ist das zwar gezielt witzig – gleichzeitig aber auch mit Hintersinn inszeniert.» Tatsächlich war Willenbrock bis zu diesem Augenblick einer, der sich über die Not anderer keine Gedanken gemacht hat. Jetzt steckt er selbst in einer Notlage und steht Menschen gegenüber, die sich nun ihrerseits nichts dabei denken.

Dresens Humor hat etwas unerwartet Subversives. Wenn er das Absurde und das Tragische mischt, eine unterhaltsame Geschichte mit ernstem Anliegen erzählt, das Kino nicht «als moralische Anstalt», sondern als «Ort des sinnlichen Mitfühlens» versteht, dann werden daraus sozialkritische Tragikomödien, und es überrascht deshalb nicht, dass Dresen gerade Ken Loach und Mike Leigh zu seinen wichtigsten Vorbildern zählt. «Ich kann nicht Filme über Personen machen, die ich nicht mag, die mir vollständig fremd bleiben.»

Ist Andreas Dresen ein Glückskind des deutschen Films? «Ich bewege mich oft am Rande der Überforderung, bin viel unsicherer als das vielleicht scheint und habe meine Krisen. Oft fühle ich mich wie einer, der vorausgeht, obwohl er selbst den Weg nicht kennt.»

Wenn Andreas Dresen ein Glückskind ist, dann wohl eines aus einer guten Komödie: Lachen und Weinen nahe zusammen. Uns sympathisch, weil in dieser Sympathie das Mitleid noch nicht vom jovialen Schulterklopfen verdrängt wurde.

Als Regisseur würde Andreas Dresen spätestens jetzt dem drohenden Pathos mit einer Pointe den Garaus machen: «Ich hasse Szenen im Auto. Es ist ein furchtbarer Drehort. Zwischen mir und den Schauspielern eine blöde Fensterscheibe, drei Funkgeräte um den Hals, und ich frier mir draussen bei hundert Sachen den Arsch ab.»

Andreas Dresen, sie sind inzwischen einer der bekanntesten deutschen Regisseure und gelten als besonders eigenständig. War es für sie nie ein Problem, der Sohn des berühmten Theater- und Opernregisseurs Adolf Dresen zu sein?

Weil sich meine Eltern sehr früh scheiden liessen, bin ich bei meiner Mutter in Schwerin aufgewachsen. Mein Vater lebte in Berlin und war deshalb nur aus der Distanz spürbar. Als ich mich dann mit dreizehn, vierzehn Jahre für seine Arbeit hätte interessieren können, lebte er bereits im Westen und für mich erst recht nicht mehr erreichbar. Leider habe ich so praktisch nichts von der Arbeit meines Vaters gesehen. Was Schauspiel bedeutet, habe ich vor allem bei meiner Mutter erlebt und bei meinem Ziehvater Christoph Schroth, der auch Theaterregisseur ist. Das hat mir aber vor allem Respekt eingeflösst, weil es häufig mit politischen Konflikten verknüpft war. Mein Vater beispielsweise wurde mit Aufführungsverbot belegt, das waren also keine sehr verlockenden Aussichten. Er hat, wohl auch aus diesen Gründen, versucht, mich davon abzuhalten, Regisseur zu werden.

Gab es mit ihrem Vater also gar keine künstlerische Auseinandersetzung?

Doch, er ist später hin und wieder bei mir im Schneideraum aufgetaucht – und ich habe seine Auftritte gefürchtet, weil sein Urteil meistens vernichtend war. Besonders schlimm daran war, dass er oft Recht hatte. Das hat mich ängstlich gemacht wie einen Schüler, der bei seinem eigenen Vater in die Klasse geht und deshalb noch strenger als alle anderen behandelt wird. Nach aussen hat mein Vater diese Kritik zwar nie geäussert, aber mir gegenüber war er schonungslos, allerdings auch sehr interessant und anregend. Im Laufe der Zeit hat dann bei mir eine Emanzipation eingesetzt. Ich habe mich auch manchmal getraut, Dinge völlig anders zu machen, als er mir geraten hatte. Wir waren schliesslich doch auf einer Ebene angekommen und konnten uns gleichwertig begegnen, hatten ein herzliches und offenes Verhältnis.

Als Sie Regisseur werden wollten, lebten Sie noch in der DDR. Wie kam man dort zum Film?

Ich wurde vom DEFA-Studio zum Filmstudium delegiert, was in der DDR bedeutete, dass ich nach dem Studium im Normalfall mit einer Stelle auf Lebenszeit rechnen konnte. Ich hätte dann zunächst als Regieassistent angefangen, und so anfangs vierzig wahrscheinlich meinen ersten Film machen dürfen. Das alles hat sich mit der Wende, die unmittelbar nach meinem Studienabschluss kam, radikal verändert. Das DEFA-Studio zerfiel, und es herrschte der freie Markt. Viele alte DEFA-Regisseure konnten in diesem System nie Fuss fassen. Besonders schwer hat es auch Regisseure getroffen, die etwas älter waren als ich. In der DEFA liess man sie nicht hochkommen, und nach der Wende galten sie bereits als zu alt. Damals sind eine Reihe von grossen Talenten tragisch aufgerieben worden. Ich hatte also das Glück, dass ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und im richtigen Alter war.

Wie sah dieses Glück konkret aus?

Schon als ich mit dem Studium begann, hatte ich Glück, weil gleichzeitig auch Lothar Bisky als neuer Rektor anfing. Er hat sich für die Studenten stark gemacht, hat die Schule nach innen und nach aussen geöffnet. Man konnte ohne gross mutig zu sein aufrechten Ganges durch diese Zeit kommen. Dann hatte ich Glück, dass mein Studentenfilm an der Berlinale gezeigt wurde und dort Wolfgang Pfeiffer auffiel. Er kam nach der Aufführung zu mir und bot mir an, bei meinem ersten «richtigen» Film zu helfen. Er hat dann tatsächlich «Stilles Land» produziert. So haben sich mir immer wieder Räume geöffnet. Das war wichtig, denn in der DDR wurden Filme ganz anders produziert. Dort hat das DEFA-Studio einen Film gemacht oder nicht, der Existenzkampf, das Ringen um finanzielle Mittel, das war für mich neu. Ein Kollege hat einmal gesagt, das Leben im Dschungel sei besser als das Leben im Zoo. So sehe ich das auch. Ich habe die Sicherheit in der DDR eingetauscht gegen ein gefahrvolles Leben – aber Kunst ohne Risiko geht nicht.

Die meisten ihrer Filme spielen zwar im Osten Deutschlands, was aber nie penetrant herausgestrichen wird. Die Geschichten könnten sich auch irgendwo sonst abspielen.

In den ersten Jahren nach dem Studium habe ich drei Filme gemacht, die sich ganz konkret mit der DDR auseinandersetzten. Das waren «Stilles Land», «Das andere Leben des Herrn Kreins» und «Raus aus der Haut». Dann habe ich aufgehört, von meiner Herkunft zu erzählen, weil ich gemerkt habe, dass die Filme nicht funktionierten. Direkt gesagt, sie haben kein Schwein interessiert. «Raus aus der Haut» ist bestimmt nicht mein schlechtester Film – es wollte ihn einfach niemand sehen. Auch «Stilles Land» halte ich bei allen Schwächen eines Anfängerfilms für ein wertvolles Zeitdokument mit einer inneren Wahrhaftigkeit. Aber ich wollte einfach raus aus dieser Schublade. Inzwischen habe ich ein Drittel meines Lebens in diesem grösser gewordenen Land verbracht – ich glaube deshalb, dass ich auch dazu etwas zu erzählen habe. Dennoch möchte ich irgendwann einen Film über die DDR machen, aber er müsste völlig anders aussehen, als alle Filme, die es bislang gibt.

Diese andere Optik wird bereits in «Stilles Land» sichtbar, wo wir die Wende bei einem Provinztheater miterleben.

Ich hatte schon damals das Gefühl, dass ich die Wende nicht vom Zentrum her erzählen kann. Wir verlassen die Provinz bewusst nie, denn dieses Theater ist die DDR, hier spiegelt sich die Zeitgeschichte. Anstatt die Demonstrationen in Leipzig zu zeigen ist es doch viel reizvoller, ein Häufchen von 80 Personen über den Marktplatz einer verschlafenen Kleinstadt gehen zu sehen. Man denkt dann: ‚Ach Gott, wie klein! Und das soll Weltgeschichte sein?’ Und das Schöne daran ist: Es ist Weltgeschichte! Aus der Nähe betrachtet ist Weltgeschichte immer klein.

Die Hauptfigur in «Stilles Land» ist ein junger Regisseur. Wie viel von Andreas Dresen steckt in dieser Figur?

Wolfgang Pfeiffer hat mich eine zeitlang sogar zu überreden versucht, diese Rolle selbst zu spielen. Ich war aber damals schon hinter der Kamera genug überfordert, und ich bin auch kein besonders guter Schauspieler. Aber natürlich gibt es gewisse Parallelen zwischen Kai und mir. Vor allem sind wir ähnlich durch die Wendezeit gegangen, mit der gleichen Verwunderung. Andererseits hat er mit mir überhaupt nicht zu tun, vor allem in seiner Arbeitsweise nicht. Er setzt sein Ensemble teilweise stark unter Druck. Ich sehe mich als jener, der den roten Faden im Auge behält, der dafür sorgt, dass dieses diffizile Gebilde «Filmproduktion» nicht auseinanderbricht, als ein Regisseur, der seinem Team die Lust auf eine Reise in zum Teil unbekanntes Territorium vermittelt. Und ich muss ihnen die Angst nehmen, dabei abzustürzen.

Und sie selbst haben keine Angst?

Alle, die an einen Drehort kommen, haben Angst! Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben Angst, sich vor dem Team zu blamieren; die Techniker haben Angst, dass ihre Arbeit nicht genügt und der Regisseur hat Angst, fremdes Geld sinnlos zu verschleudern. Gerade durch diese Ängste entstehen am Drehort oft hierarchische Strukturen, die ich aber gezielt zu unterlaufen versuche. Ich möchte ein Klima herstellen, das im weitesten Sinne angstfrei ist. Wo alle sich trauen, Dinge zu wagen, die manchmal auch daneben gehen, wo man sich öffnen kann, wo man sich traut, Vorschläge zu machen. Insofern mag ich für die Bezeichnung meiner Rolle das Wort «Spielleiter», obwohl ich mir bewusst bin, dass es durch die Nazis in Misskredit geraten ist. Aber eigentlich beschreibt es sehr treffend und schön, was meine Aufgabe ist. Ich bin derjenige, der die Spielregeln vorgibt. Andreas Schmidt hat das beim Dreh zu «Sommer vorm Balkon» sehr schön ausgedrückt: ‚Du hast uns in einen grossen Spielplatz reingesetzt. Wir spielen, und manchmal kommst Du und sagst uns, dass eine Ampel auf rot steht. Du führst uns ein Stückchen, und dann lässt Du uns wieder frei.’

Ein Regisseur, der ohne Druck arbeitet, das gibt’s doch gar nicht?

Natürlich erzeuge auch ich hin und wieder Druck, aber ich muss dazu nicht laut werden. Wenn am Set eine entspannte, fast schon familiäre Atmosphäre herrscht, finde ich das grundsätzlich gut. Sollte es dann mal unruhig werden, dann reicht manchmal bereits ein Blick, um die Leute zurückzuholen. Klar erhebe ich manchmal auch meine Stimme, aber ich brülle nicht rum. Ich steuere am Set die Stimmung häufig durch die Art meiner Kommandos. Normalerweise werden Kommandos wie «Ruhe bitte, wir drehen! Ton ab!» von der Aufnahmeleitung oder von der Regieassistenz gegeben. Ich mache das immer selbst, weil ich dadurch Stimmung und Abläufe extrem gut steuern kann. Ich kann beispielsweise sagen: «Ruhe bitte, wir drehen!» und dann warte ich noch etwa 10 Sekunden, wo’s mucksmäuschenstill ist, wo gar nichts passiert, wo eine ungeheure Spannung entsteht. Und dann sage ich vielleicht nur ganz leise «Ton ab!» Andererseits gibt es Momente, wo es etwas durchhängt, wo ich das Gefühl habe, die Situation beschleunigen zu müssen. Dann kann es auch Ruckzuck gehen «Ruhe! Wir drehen! Ton ab!» und schon kriegt die Szene eine andere Dynamik.

Das verlangt aber ein grosses Mass an Vertrautheit.

Ich kann mir nicht vorstellen, bei jedem neuen Film mit einem komplett veränderten Team zu arbeiten. Es wäre für mich undenkbar, eine Woche vor Drehbeginn dazu zu kommen und mal eben zu schauen, was dabei herauskommt, wie es bei Fernsehproduktionen teilweise üblich ist. ich arbeite fast immer mit demselben technischen Stab. Meine letzten drei Filme sind bis auf wenige Positionen vom gleichen Team gedreht – so unterschiedlich die fertigen Filme auch aussehen. Allerdings muss man aufpassen, dass man sich vor lauter gegenseitigem Vertrauen nicht einlullen lässt.

Es gibt also auch bei Andreas Dresen Auseinandersetzungen?

Wir gehen extrem kritisch miteinander um und schenken uns gar nichts. Bei «Halbe Treppe» beispielsweise gab es heftigste Diskussionen bis manchmal spät in die Nacht hinein. Wenn jemanden etwas nicht überzeugt, dann wird das auch ausgesprochen, sowohl von mir wie von meinen Mitarbeitern. Regie ist für mich ja keine Einbahnstrasse.

Ist es da nicht schwierig, für Leute, die das erste Mal mit Ihnen arbeiten, in die «Familie» hineinzukommen?

Die werden sehr schnell integriert, weil sie merken, dass auch ihre Meinung gefragt ist. Bei «Sommer vorm Balkon» habe ich zum ersten Mal mit Georg Nonnenmacher als Beleuchter gearbeitet. Jetzt gibt es Beleuchter, bei denen man das Gefühl hat, es sei ihnen völlig egal, was für ein Film da gerade gedreht wird. Georg ist überhaupt nicht so, er ist ein kluger, kreativer Kopf, mit dem ich mich sofort verstanden habe. Und als Nike in der Küche Wasser aus dem Hahn lässt, hat er erzählt, dass bei ihm zu Hause in solchen Momenten unter der Dusche brühend heisses Wasser rauskomme. Die Idee hat uns so gut gefallen, dass wir sie sofort aufgenommen und dann sogar noch weiter gespinnt haben.

Ihre Filme wurden von unterschiedlichen Autoren geschrieben. Dennoch sind immer unverkennbare Dresen-Filme daraus geworden. Wie kommen Sie zu ihren Stoffen?

Bei «Sommer vorm Balkon», meinem letzten Film, war es Liebe auf den ersten Blick. Schon als ich das Buch von Wolfgang Kohlhaase erhielt, war ich gespannt, denn mit Filmen von ihm bin ich gross geworden. Von «Solo Sunny» kann ich ganze Passagen auswendig. Ich liebe den Tonfall mit dem er Geschichten erzählt – und er mochte offenbar meine Filme. Auf jeden Fall haben wir uns sofort verstanden. Und dann hat mir halt diese Geschichte entsprochen, wo man zunächst meint, es gehe um eine junge Frau, die sich mit einem Fernfahrer einlässt. Und sich dann herausstellt, dass man durch die Strasse schlendert, bei ganz vielen Menschen reinschaut und ein Stück von deren Lebenskampf mitkriegt. Wie man schwere Zeiten durchsteht, von der Hoffnung getrieben, dass vielleicht doch einmal der richtige Mensch für einen auftaucht. Die unspektakuläre Solidarität und die Hoffnung, all das hat mich an diesem Stoff unheimlich gerührt. Und dann diese Tonlage, wo ernste Dinge mit einem unheimlichen Sprachwitz behandelt werden, so dass ich schon beim Lesen des Buches Tränen gelacht habe. So erzähle ich auch gerne.

Sie haben also einfach den Stoff gefunden, der zu Ihnen passt. Oder geschieht da noch mehr?

Dann setzt man sich zusammen und arbeitet Szene für Szene durch. Streicht manchmal auch ganze Motive raus. Katrin beispielsweise war im ersten Entwurf von Beruf Kunstmalerin, aber schon Wolfgang Kohlhaase war nie ganz glücklich mit dieser Idee. Wir fanden beide, dass eine Reflexion über künstlerischen Erfolg und Misserfolg den Film überfrachten würde. Wir haben die Figur deshalb komplett geerdet und umgebaut. So sind dann aus 30 Seiten des ersten Drehbuchentwurfs 100 Seiten geworden. Aber ich war von Anfang an sicher: Das ist eine Geschichte für mich. Das ist übrigens immer auch eine Frage der Stimmung, in der ich mich gerade befinde. Als ich «Sommer vorm Balkon» zum Lesen erhielt, ging es mir gerade überhaupt nicht gut, und diese Geschichte sprach mir aus der Seele, weil sie genau den Schmerz hatte, den ich empfand und die Hoffnung, die ich mir wünschte.

Trotz wechselnder Stimmungslage, hat man das Gefühl, dass Ihnen Geschichten wie «Halbe Treppe» oder «Sommer vorm Balkon» besser liegen als solche wie «Willenbrock».

Ich schliesse nicht aus, dass ich wieder einmal einen Film im Stil von «Willenbrock» machen werde, wenn ich die entsprechende Geschichte dafür finde. Für mich sind «Sommer vorm Balkon» und «Willenbrock» zwei Seiten einer Medaille. Aus Spass haben wir sie den «Roten» und den «Blauen» Film genannt. Der «Blaue», also «Willenbrock» ist kälter, analytischer, schärfer und die Geschichte wird aus Distanz erzählt. In den «Roten» dagegen, in «Sommer vorm Balkon» stürzt man sich mitten hinein und erzählt aus dieser Mitte heraus, voller Lebensenergie, da ist alles Blut reingrepresst, da lässt man den Emotionen freien Lauf. Dadurch erhält der Film eine ganz andere Temperierung, man kommt auch an die Figuren viel leichter heran als an den gewieften Autohändler Willenbrock. Man könnte meinen, die beiden Filme seien von verschiedenen Leuten gemacht. Und genau das hat mich gereizt: In kurzer Zeit zwei derart verschiedene Geschichten zu erzählen. Diesen Kontrast habe ich wahrscheinlich intuitiv gesucht.

Jede Geschichte hat ihre Form. Wie stark sind Sie sich dessen bei der Produktion bewusst?

Bei «Sommer vorm Balkon» habe ich von Anfang an gewisse Entscheidungen darüber gefällt, wohin die Reise gehen sollte. Bereits im Buch von Kohlhaase wurden Personen und Situationen mit wenigen Strichen gezeichnet, nichts Abgerundetes, nur ein paar Ausschnitte aus ein paar Leben. Genau das wollte ich erhalten. Deshalb wollte ich den Film schnell machen und zwar schon in der Vorproduktion. Deshalb habe ich meine Produzenten Peter Rommel und Stefan Arndt überzeugt, mit einem kleinen Team zu arbeiten und auf 16mm zu drehen, auf der Strasse, ohne Kran, ohne Dolly, oft mit Handkamera. Ich wusste, diese Geschichte braucht das.

Also wieder zurück zum Stil von «Halbe Treppe»?

Nicht wirklich. Ich wollte bewusst anders arbeiten als bei «Halbe Treppe» und war mir über die visuellen Defizite von «Halbe Treppe» sehr wohl bewusst. Wenn ich im Kino diese grobkörnigen Bilder sehe, dann empfinde ich das nicht als Qualität sondern ärgere mich darüber. Aber «Halbe Treppe» konnte man anders nicht erzählen. Auch dort hat die Geschichte die Form bestimmt. Bei «Sommer vorm Balkon» wusste ich, dass ich auch Totalen und Halbtotalen brauchte. Hier wurde viele weniger improvisiert als in «Halbe Treppe». Es gab Dialogszenen, vor allem zwischen Nike und Ronald, die waren ganz streng komponiert und mussten dementsprechend inszeniert werden. Wenn dieser trockene Witz treffen sollte, dann musste ich in der Inszenierung sehr genau sein und gleichzeitig lakonisch. Wir haben teilweise bis zu 15 Takes gebraucht, bis wir den richtigen Rhythmus gefunden haben. Und die Kamera stand bei diesen Szenen meist in der Halbtotale, es gibt praktisch keine Grossaufnahmen und wenig Kamerabewegung.

Dennoch gibt es auch in «Sommer vorm Balkon» diese dokumentarisch rauen Bilder.

Die kunstvoll gebauten Dialog wollten wir bewusst immer wieder wie mit dem Hammer zerschlagen, um anzuzeigen, wie die Realität immer wieder einbricht. Für diese Augenblicke haben wir dann wieder viel improvisiert, haben mit Laien gearbeitet und auf der Strasse gedreht. Beispielsweise haben wir für die Eingangszene, wo Katrin bei einem Bewerbungstraining mitmacht, einen echten Bewerbungstrainer gesucht, und die anderen Mitspieler haben Katrins «Vorführung» mit ihren eigenen Worten kommentiert. Oder als es um den Turnschuhkauf ging, habe ich mit angehört, was ein Schuhverkäufer dazu zu sagen hat. Und bei der Einlieferung von Katrin in die Suchtmedizin ist das gesamte medizinische Personal echt, da ist kein einziger Schauspieler dabei. Bei «Sommer vorm Balkon» konnte ich die Erfahrung aus verschiedene Filmen zusammentragen, die Improvisation mit Laien aus der «Polizistin», die Improvisation aus «Halbe Treppe», aber auch die strenge Form von «Willenbrock».

Hier geht es vor allem um das Konzept der Schauspielerführung. Wie sah Ihr visuelles Konzept aus?

Mir und meinem Kameramann Andreas Höfer war klar, dass wir meist auf Augenhöhe der Personen bleiben und die menschliche Perspektive kaum verlassen wollten. Wir haben an einem einzigen Drehtag einen Ausleger gebraucht, weil wir zeigen mussten, dass Ronald auf dem Balkon ausgeschlossen steht. Da brauchten wir die Kameraperspektive von ausserhalb des Balkons. Das Understatement in der Bildsprache von «Sommer vorm Balkon» ist natürlich auch eine Folge von Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit den Werkzeugen, die uns zur Verfügung stehen.

Wenn man ihre frühen Filme mit ihren jüngsten Werken vergleicht, fällt auf, dass sie sehr sicher und gelassen inszenieren – fast beiläufig und sehr unauffällig.

Als junger Regisseur gehört es zum Selbsterhaltungstrieb, dass man besonders originell sein will. Man will ja für seine Kunstfertigkeit anerkannt werden. Bei «Halbe Treppe» dann wollte ich bewusst eine andere Formsprache ausprobieren, weil ich bei dieser Geschichte radikal nahe an den Personen dran sein wollte. Für «Willenbrock» war das schon von der Geschichte her nicht in der selben Art möglich. Da muss man über Bildkomposition nachdenken. Aber auch das sollte man eigentlich im fertigen Film nicht bemerken. Sobald man im Kino über die Schönheit einer Einstellung nachzudenken beginnt, ist etwas falsch gelaufen, weil man damit aus der Erzählung raus fällt. Eine Geschichte ist dann am schönsten erzählt, wenn sich die Form ganz selbstverständlich ergibt und einfügt.

Um das zu erreichen, braucht es aber einiges Selbstbewusstsein.

Als Regisseur muss ich dem Geschehen nicht nur voraus sein, ich muss ihm auch folgen können. Es gibt Bewegungen, die entstehen erst am Drehort, und die sollte man einfangen können. Das sind Dinge, die lernt man als Regisseur im Laufe der Zeit durch Erfahrung, dann gewinnt man auch Selbstvertrauen. Als Anfänger hat man oft einen Kontrollwahn, weil man alles unbedingt im Griff haben möchte. Dadurch verpasst man manchmal schöne Momente, die aus dem Augenblick heraus entstehen. Grundsätzlich muss man als Regisseur natürlich die Übersicht bewahren und auch die Kontrolle, aber man sollte genauso spüren, wann man es laufen lassen muss.

In Ihren Filmen gibt es immer wieder Momente, von grosser Unmittelbarkeit und berührender Wahrhaftigkeit. In «Sommer vorm Balkon» beispielsweise die Liebesszene zwischen Nike und Katrin. Ist das ein solcher Augenblick, den Sie einfangen mussten?

Im Drehbuch gab es dafür keinen szenischer Vorschlag, es war nur die Möglichkeit angedeutet. Es war unsere Aufgabe, am Drehort dafür ein Bild zu finden. Zunächst haben wir natürlich mit den Schauspielerinnen darüber geredet. Ich habe mir immer einen intimen Moment vorgestellt, wie er meiner Meinung nach nur in Frauenfreundschaften möglich ist, wo eine grosse menschliche und körperliche Zärtlichkeit spürbar wird, wo auch die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung angedeutet wird, wo dann aber beide sich sagen, ‚nein, das lassen wir’. Wir haben die eigentliche Liebesszene dann durch die vorangehende Szene vorbereitet, wo Nike auf dem Balkon Katrins Hand berührt, nachdem diese mit ihrem Ex-Mann telefoniert hat und sichtlich aufgewühlt ist. Die Szene im Bett haben wir dann auf die verschiedensten Arten ausprobiert, mit ganz unterschiedlichen Kameraperspektiven. Bis ich irgendwann gesagt habe, lasst uns doch wenigstens einmal einen Kuss versuchen. Im Take, den wir dann genommen haben, rutscht den Schauspielern ein klein wenig die Kontrolle weg und Katrin muss fast schon lachen. Aber genau da entsteht jene Schönheit des Augenblicks, die ganz genau zu den Figuren und der Stimmung passt. Die Erotik wird nur angedeutet und geht sofort wieder in die Zärtlichkeit zweier Freundinnen über. Wir wollten zeigen, dass es in dieser Frauenbeziehung auch noch die «andere» Möglichkeit gäbe, dass diese beiden sich aber nicht dafür entscheiden und dennoch auch physisch füreinander da sind.
Wir haben diesen Moment dann bewusst auch nicht breitgewalzt. Der Mut zur Ellipse ist das Vertrauen in den Zuschauer, der die Räume zwischen den Bildern mit seinen Gedanken füllt.

Bei Ihnen tauchen immer wieder ganz ähnlich Männertypen auf: Richtige Kotzbrocken, die es dann aber doch schaffen, irgendwie unsere Sympathie zu gewinnen.

Männer haben immer ein klein bisschen was zu verstecken, und sie benutzen dazu oft diese Macho-Attitüde wie Ronald in «Sommer vorm Balkon», der sich diese dunkle Sonnenbrille aufsetzt, und fast schon zwanghaft auf cool und unnahbar macht. In Wirklichkeit ist er aber eine arme Sau, der seinen Platz immer noch nicht gefunden hat. Es macht mir zugegeben Spass gemacht, diese männliche Attitüde zu entblättern und dieses Testosteron-Verhalten zu ironisieren. Gleichzeitig mag ich aber auch diese Figuren, selbst einen wie Willenbrock.

Meist begegnen wir in Filmen Menschen, die das Gute möchten, die dann aber scheitern. Bei Ihnen ist es oft genau umgekehrt. Einer wie Peschke in «Nachtestalten» schafft es einfach nicht, ein am Flughafen gestrandetes Kind seinem Schicksal zu überlassen, obwohl er sich unheimlich anstrengt. Auch so ein Kotzbrocken, den sie mögen?

Peschke kämpft im Grunde um seine nackte Existenz. Er hat einen 35jährigen Chef, er selbst ist jenseits der 50, das ist Scheisse und ärgert ihn masslos. Und er fragt sich, weshalb er es nicht weiter bringt. Er kommt zum Schluss: Ich bin zu gutherzig. Und in seiner Selbstreflexion kommt er zur Überzeugung, dass sein grösstes Defizit ist, ein hilfsbereiter Mensch zu sein. Natürlich ist das völliger Blödsinn, aber es ist unser besonderes Vergnügen, ihm dabei zuzusehen, wie er es einfach nicht schafft, ein herzloses Schwein zu werden. Er muss das selbst nicht einmal einsehen, noch am Ende des Films ist er überzeugt, eine Null zu sein und zu bleiben. Wir aber haben einen Film lang erlebt, dass er genau das nicht ist.

Zu ihren erklärten Vorbildern gehören Ken Loach und Mike Leigh. Wenn Sie einfache Menschen in ihrem täglichen Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens zeigen, wird diese Verbundenheit offensichtlich.

Ich mag Figuren, die sich durchs Leben kämpfen müssen, die nicht permanent Zeit haben, sich aufzubretzeln und gut auszusehen. Wenn sie es dennoch versuchen, dann eher ungeschickt wie Nike in «Sommer vorm Balkon», wo jeder von uns über das grauenhafte Outfit stöhnt. Bei einem solchen Menschen macht es Freude, eine Schönheit zu entdecken, die von ganz woanders her kommt. Am allerschönsten ist Nike, wenn sie vor Katrins Tür steht, mit einem Gesicht so offen, dass man hinter die Fassade blicken kann. Dafür geht man doch ins Kino, um Menschen durch die Augen in die Seele schauen zu können. Und schön ist ein Mensch, wenn er eine schöne Seele hat. Nike ist eine Frau, die ganz intuitiv und selbstverständlich soziale Verantwortung übernimmt. Sie macht das ohne Getue und hat nicht einmal das Gefühl, etwas besonderes Gutes zu tun. Und am Schluss kriegt sie dafür sogar noch eins auf den Deckel.

Wenn sie von «schöner Seele» sprechen, muss ich unwillkürlich an die «Polizistin» denken, wo es zwischen ihr und einem kleinen Jungen ein Dialog über die Seele gibt. Eine Szene, die ganz offensichtlich eine Schlüsselszene ist. Vielleicht sogar für all ihre Filme?

Aus dem Munde eines Kindes wirken diese Gedanken zur Seele ja total merkwürdig, aber ich mochte die Szene schon im Drehbuch. Gleichzeitig war ich mir der Schwierigkeit bewusst, sie zu inszenieren, denn es hing alles davon ab, dass der Junge das mit dem nötigen Understatemtent spielen konnte, weil es sonst ganz furchtbar peinlich geworden wäre. Es ist für die «Polizistin» tatsächlich eine zentrale Stelle, weil ihr immer wieder gesagt wird, sie müsse sich eine dickere Haut zulegen. Ihre Offenheit, der Durchblick zu ihrer Seele, wird als ihre wunde Stelle bezeichnet. Aber es ist natürlich nicht ihre wunde Stelle sondern ihre eigentliche Schönheit, genau wie bei Peschke. Es ist doch wunderbar, dass genau diese Frau Polizistin ist.

Ihre Schauspielerinnen haben in jedem Film Augenblicke von grosser Schönheit, wirken aber nie glamourös und äusserlich selten attraktiv. Wehren sich die Schauspielerinnen nie dagegen?

Die Schauspielerinnen, mit denen ich gearbeitet habe, sind alles schöne Frauen und ich habe tatsächlich schon öfters die Klage gehört, dass sie sich nicht schön genug fotografiert fanden. Nach der Teampremiere von «Halbe Treppe» kam der Film gerade aus diesem Grunde überhaupt nicht gut an. Gabi Schmeide kam anschliessend zu mir und beklagte sich, sie sähe in diesem Film furchtbar aus und jammerte den ganzen Abend. Ich habe es nicht verstanden. Möchtest Du in dieser Geschichte glamouröser aussehen, habe ich sie gefragt. Später hat sich diese Kritik dann gelegt, als die Schauspielerinnen und Schauspieler gemerkt haben, wie der Film funktioniert, dass man die Menschen in dieser Geschichte dennoch als schön empfinden kann, aber in einem ganz anderen Sinne als man das von der Werbung her gewohnt ist.

Sie drehen immer wieder Dokumentarfilme. Was machen Sie da anders?

Dokumentarfilm unterscheidet sich von Spielfilm schon dadurch, dass er ganz anders hergestellt wird. Im Dokumentarfilm schaffe ich meine künstlerische Wahrnehmung der Realität. Ich darf aber vor der Kamera nichts arrangieren. Ich würde nie einen Protagonisten in einem Dokumentarfilm beeinflussen und ihm Anweisungen geben, beispielsweise was er zu sagen oder wie er sich zu bewegen hat. Kurz: Beim Dokumentarfilm kann ich nicht «Bitte» sagen. Ich muss den richtigen Moment erwischen, ich kann ihn nicht inszenieren. Bei «Halbe Treppe» habe ich zwar oft die Mittel des Dokumentarfilms benutzt, aber natürlich ist der Film durch und durch inszeniert, auch all das, was scheinbar dokumentarisch wirkt.

Auch in «Sommer vorm Balkon» gibt es Szenen, die dokumentarisch wirken…

…aber ich bin mir immer bewusst, dass ich eine Übersetzung oder gar eine Überhöhung des Alltags inszeniere. Katrin will für ihren Sohn Turnschuhe kaufen und lässt sich von einem Verkäufer beraten – zunächst eine ganz alltägliche Szene. Ich habe sie dann folgendermassen inszeniert: Wir haben einen echten Schuhverkäufer gesucht, der einen Schuh anpreist, wie er dass auch im realen Leben tut. Aber schon sein Tonfall wirkt im Film irritierend, weil sich der Schuhverkäufer natürlich nicht gewohnt war, vor laufender Kamera zu stehen. Es wirkt gestelzt und bereits dadurch wird die Szene gebrochen, das Interesse geweckt. Und dann habe ich die Szene wie einen Werbeclip geschnitten, mit ganz vielen Jump-Cuts, so dass man das Gefühl erhält, das Gespräch dauere in Wirklichkeit eine halbe Sunde und das, was wir zu hören bekommen, seien lediglich die Höhepunkte. Was dokumentarisch aussieht, ist in Wirklichkeit gezielte Inszenierung und auch Manipulation.

Vielleicht wäre es besser, das Wort «dokumentarisch» durch «authentisch» zu ersetzen. Beispielsweise die Polizeiwache in der «Polizistin», die wirkt unglaublich authentisch.

Es ist ja auch eine echte Polizeistation. Entscheidend war, dass wir dort drehen konnten, während die alltägliche, echte Polizeiarbeit weiter lief. Wir haben uns für diesen Drehort entschieden, weil er glaubhaft erschien, ohne dass die Ausstatterin viel tun musste. Und weil ich überrascht war, unter welch schwierigen Bedingungen in einem Revier für 90’000 Einwohner gearbeitet werden muss. Wir haben also versucht, diesen Raum genauso zu vermitteln, wie wir ihn vorfanden. Zum anderen hat der weiterlaufende Polizeibetrieb dazu geführt, dass sich unsere Schauspieler anders bewegt und einen neuen Rhythmus gefunden haben. Ich mag übrigens den klassischen Establishing-Shot gar nicht. Ich betrete Räume viel lieber zusammen mit den Figuren, lasse sie die Räume erobern und uns mitnehmen.

Eine entscheidende Rolle spielt in ihren Filmen die Musik. Und nicht selten erzählt diese nochmals eine ganz eigene Geschichte, wie beispielsweise in «Halbe Treppe».

Ich arbeite sehr gerne mit fertiger Musik. Von Musik, die schön passend auf die Bilder gepappt wird, die Klischees bedient und Stimmungen illustriert, habe ich die Nase schon lange voll. Wenn ich den Fernseher einstelle, höre ich immer diese Musik, die mir aufzwingen will, was ich nun zu fühlen habe – das ist grauenhaft. Bei «Sommer vorm Balkon» hatte ich zunächst keine Idee für die Musik und beschloss deshalb, einfach zu drehen und erst im Schnittraum nach der Musik zu suchen. Da nahm ich dann CDs mit und habe zusammen mit dem Cutter Jörg Hauschild experimentiert. Bei der Musik von Pascal Comelade hat es dann gefunkt. Seine Musik hat etwas Unfertiges, manchmal kindliches und zirkushaftes. Das hat genau zum Film gepasst und ihm eine neue Ebene verliehen – ohne dass ein einziges Stück extra dafür komponiert worden wäre.

Sie möchten nicht, dass die Musik lediglich die Stimmung der Bilder dupliziert und verstärkt. Was tun sie, um das zu verhindern?

Wenn Katrin in «Sommer vorm Balkon» total betrunken ihren Ex-Mann anruft und danach vollständig zusammenbricht, dann ist das einer der dramatischsten Momente des Films. Die Musik, die wir dazu ausgewählt haben, steht im völligen Kontrast dazu. Sie erzählt von einem lauen, leichten Sommerabend, also eigentlich von der Stimmung, in der Katrin jetzt gerne sein möchte. Erst als Katrin unkontrolliert zu weinen beginnt, haben wir die Musik ganz weggenommen.
Auch die Schlager, die wir im Film eingesetzt haben, spielen mit diesem Kontrast. Die Sehnsucht, die sie verkünden, wird sich in der Realität nie einlösen – auch nicht für Nike, Katrin und Ronald. Mit dieser Ironie zu spielen, das gibt dem Film eine Leichtigkeit – gleichzeitig aber auch eine Tiefe, denn auch die Sehnsucht ist eine Wirklichkeit.

© THOMAS BINOTTO

PUBLIZIERT IN «FILMBULLETIN» 1/2006

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